Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 9 (2009), S. 38
Im hellen Sonnenschein scheinen selbst solide Gegenstände durchsichtig zu werden.
Einst sah ich eine schwarz gekleidete Frau mit weißem Kopftuch;
dieses Tuch schien doppelt so breit wie ihre Schultern zu sein,
welche schwarz bekleidet waren
Leonardo da Vinci (1452 – 1519)
„So bemerken wir, wenn wir die Sonne durch die kahlen Zweige des Baumes betrachten, daß alle Zweige die vor der Sonnenscheibe liegen, so dünn sind, daß man sie nicht mehr sieht…
Einst sah ich eine schwarz gekleidete Frau mit weißem Kopftuch; dieses Tuch schien doppelt so breit wie ihre Schultern zu sein, welche schwarz bekleidet waren . . .
Zwischen den Zinnen von Befestigungen gibt es Zwischenräume, die genauso breit sind wie die aufragenden Teile, und doch erscheinen erstere etwas breiter als letztere“ [1].
Dieses von Leonardo da Vinci beschriebene Phänomen kann man in vielen vergleichbaren Situationen erleben. So erscheint die tief stehende Sonne durch das Geäst eines Baumes hindurch betrachtet einige Äste geradezu wegzubrennen (Abb. 1). Auch andere dunkle Gegenstände, wie etwa der in Abbildung 2 dargestellte Schornstein, scheinen vor sehr hellem Hintergrund Substanzeinbußen zu erleiden.
Umgekehrt sieht es so aus, als würden sehr helle Gegenstände, wie etwa die durch Sonnenreflexe aufleuchtenden glatten Bahnschienen in Abbildung 3 dicker werden als sie tatsächlich sind. Auch dieser Effekt ist bereits von Leonardo da Vinci bemerkt worden, wenn er notiert, dass ein „ in einem Teil seiner Länge zum Glühen gebrachte(r) Eisenstab, falls er sich an einem dunklen Ort befindet; …(erscheint) an der glühenden Stelle viel dicker, und zwar umso dicker, je stärker er glüht“ [2].
Dieses Beispiel könnte allerdings insofern missverstanden werden, als ein glühender Gegenstand sich tatsächlich ausdehnt. Allerdings ist das Maß der Ausdehnung im Vergleich zu dem hier beobachteten optischen Effekt so gering, dass er mit bloßem Auge kaum wahrgenommen werden kann.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch das Phänomen, dass die nach Neumond auftauchende Sichel des Mondes zu einer größeren Kugel zu gehören scheint, als der im aschgrauen Licht schimmernde Restmond nahe legt (Abb. 4).
Ursache für diese Phänomene ist ein physiologischer Effekt. Normalerweise werden die gesehenen Gegenstände den Gesetzen der geometrischen Optik entsprechend auf der Netzhaut des Auges farb- und helligkeitsgetreu abgebildet. Bei sehr hellen Objekten werden die Rezeptoren aber gegebenenfalls über die Sättigung hinaus angesprochen und dadurch so stark erregt, dass auch noch einige der benachbarten Rezeptoren angesprochen werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es auch dort noch hell ist, obwohl es „in Wirklichkeit“ nicht der Fall ist.
Wie die Abbildungen zeigen, treten ähnliche Überstrahlungen des intensiv belichteten Bereichs auch in der Fotografie auf. Sowohl beim lichtempfindlichen Film einer analogen Kamera als auch bei den Chips einer Digitalkamera werden die benachbarten Bereiche bei übergroßer Helligkeit ebenfalls in vergleichbarem Maße aktiviert. Kaum zu glauben, dass die Analogie zwischen Wahrnehmung und fotografischer Abbildung so weit geht!
Literatur
[1] Da Vinci, Leonardo: Trattato 1804
[2] Da Vinci, Leonardo: Tagebücher und Aufzeichnungen. Leipzig 1940, S.160, (F 37r)
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