Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 43/3 (2012), S.52-53
An meiner Dachkante hängt
Eiszapfen neben Zapfen,
starr,
die fangen zu schmelzen an,
Tropfen auf Tropfen blitzt,
jeder dem andern unvergleichlich,
mir ins Herz.
Richard Dehmel (1863 – 1920)
Wie genau bilden sich Eiszapfen? Selbst Forscher können nicht alle Fragen dazu beantworten.
„Es schneite, taute und fror wieder während des Monats Hornung (Februar) in so häufigem Wechsel, daß nicht nur viele Menschen krank wurden«, so schrieb einst Gottfried Keller (1819 – 1890), »sondern auch eine solche Menge Eiszapfen entstand, daß das ganze Land aussah wie ein großes Glasmagazin und jedermann ein kleines Brett auf dem Kopfe trug, um von den fallenden Spitzen nicht angestochen zu werden.« Kein Wunder, dass die Worte des Dichters sogleich die Vorstellung eines besonders kalten Winters in uns entstehen lassen. Denn Eiszapfen wachsen offenbar dann am besten, wenn schnee- oder eisbedeckte Flächen zwar immer wieder von der Sonne erwärmt werden, ansonsten aber lange Zeit tiefen Temperaturen ausgesetzt sind. Das sorgt einerseits für Nachschub an flüssigem Schmelzwasser. Andererseits kann dieses bald wieder gefrieren und sich an die Zapfen anlagern.
Um die Entstehung von Eiszapfen zu beschreiben, genügen eigentlich wenige Worte. Doch schnell stellen sich weitere Fragen: Wieso nehmen sie kegelähnliche Form an, wachsen also schneller in die Länge als in die Breite? Und warum sind ihre Oberflächen nicht eben, sondern stellen vielmehr eine Aneinanderreihung horizontaler Wülste dar, die sich sogar an das metrische System zu halten scheinen?
Solange sie mit flüssigem Wasser versorgt werden, können sich Eiszapfen an allen überhängenden Objekten bilden: an Bäumen, Verkehrsschildern, Autokotflügeln, Stromleitungen. Ideal sind Dachkanten. Denn wenn die Sonne an frostigen Tagen den auf einem Dach liegenden Schnee teilweise schmilzt, kann das entstandene Wasser unter der Schneedecke zum Dachrand abfließen. Wegen der Kälte, die an der mit Schnee, Wasser und Eis überfüllten Dachrinne herrscht, gefriert es schließlich, noch ehe es hinunter tropfen kann. Selbst nach Sonnenuntergang setzt sich der Prozess noch eine Weile fort. Denn auch die aus dem geheizten Haus kommende Wärme hält das Wasser flüssig; zusätzlich isoliert der Schnee das Dach gegen die kalte Umgebungsluft.
Keimzelle eines Eiszapfens ist meist ein hängender Tropfen, den die Erstarrung kalt erwischt hat, bevor er sich ablösen konnte. Die Wassermoleküle schwingen allmählich langsamer und geben ihre Bewegungsenergie an die Umgebung ab. Zunächst erstarren die der kalten Luft ausgesetzten Wassermoleküle auf der Oberfläche des Tropfens und kleiden ihn in eine Eishülle ein. Auf dieser bildet weiteres nachfließendes Wasser schnell eine flüssige Wasser-haut. Auch sie verliert im direkten Kontakt mit der Luft infolge von Wärmeleitung, Konvektion und Verdunstung schnell ihre Energie und gefriert.
Schon der nun entstandene Minieiszapfen tendiert dazu, an seinem oberen Ende in die Breite zu wachsen. Denn wenn wenig Wasser nachfließt, wird nur dieser Bereich benetzt. Fließt hingegen zu viel Wasser nach, gelangt es bis ans untere Ende des Zapfens und tropft dort entweder ab oder bleibt ebenfalls gefrierend hängen. All diese Prozesse wiederholen sich immer und immer wieder.
Selbst bei großer Kälte friert der flüssige Kern des Zapfens zunächst zwar von oben her zu, nicht aber von den Seiten. Denn dazu müsste die frei werdende Kristallisationswärme quer durch den Zapfen nach außen abgegeben werden. Das wiederum setzt einen Temperatur-unterschied zwischen innen und außen voraus, den es aber nicht gibt. Denn solange der Zapfen gleichmäßig wächst, pendelt sich sowohl an der äußeren Grenzschicht zwischen Eis und Luft wie auch an der inneren zwischen Eis und Wasser eine Gleichgewichtstemperatur von Null Grad Celsius ein. Ein subtiler Selbstorganisationsvorgang stabilisiert sie nämlich gegen äußere Störungen: Wäre die Temperatur niedriger, würde zusätzliches Wasser gefrieren und dabei Wärme abgeben, wodurch die Temperatur wieder auf Null Grad anstiege. Und wäre sie höher, würde Eis schmelzen und dafür Wärme benötigen, sodass die Temperatur auf Null Grad sänke. Ein Wärmetransport ist also nur von der Wassersäule nach oben zur Zapfenwurzel möglich (siehe Grafik links) – lediglich dort, an der Dachtraufe, ist es kälter als Null Grad.
Von der Existenz des inneren Flüssigkeitsfadens kann man sich übrigens leicht mit einem Draht oder Schaschlikstäbchen überzeugen. Wächst dieser »Hohlraum« von oben nach unten allmählich aber doch zu, hinterlässt er eine Spur von eingeschlossenen Luftblasen. Diese entstehen aus den Luftmolekülen, die zuvor im Wasser gelöst waren (siehe Foto oben rechts).
Während Experimente typischerweise unter gleichbleibenden Bedingungen stattfinden, ist die Natur unberechenbar. Mal begünstigt stärkerer Wind die Wärmeabfuhr, mal fließt plötzlich mehr Wasser über den wachsenden Zapfen. Besonders starken Windstößen gelingt es sogar, Wasser aus dessen Innerem herauszusaugen. Dort können dabei recht große Luftblasen entstehen. Man muss die individuelle Form eines Zapfens also nur richtig »lesen«: Große Blasen deuten auf eine stürmische Vergangenheit hin, eingeschnürte Stellen auf wärmere Perioden und so weiter. »Tot« ist ein Zapfen erst, wenn die Wasserzufuhr versiegt und auch sein Inneres zufriert.
Eine weitere Auffälligkeit wird oft übersehen: die wellenartige Oberfläche von Eiszapfen. Als würden sie sich nach dem metrischen System richten, beträgt die Länge der Wellen etwa einen Zentimeter. Diesem Phänomen liegt ein weiterer Selbstorganisationsprozess zu Grunde, bei dem zwei entgegengesetzte Tendenzen miteinander konkurrieren. Die eine wird als Laplace-Instabilität bezeichnet und verstärkt kleinste zufällige Dickeschwankungen des Zapfens. Denn je exponierter eine Stelle auf der Außenseite ist, beispielsweise ein Wellenberg gegenüber einem Wellental, desto besser wird die Wärme abgeleitet und desto schneller wächst die Eisschicht.
Die andere ist das Bestreben der Natur, Temperaturdifferenzen auszugleichen. Das über den wachsenden Zapfen fließende Wasser erwärmt demzufolge die »kalten« Wellenberge und kühlt die »wärmeren« Wellentäler. Dieser Effekt bremst das Eiswachstum und regelt es auf einen gleichbleibenden Wert ein. Er ist umso stärker, je mehr sich die Temperatur zwischen beiden unterscheidet.
Zur Beschreibung dieser Phänomene haben Wissenschaftler der japanischen Hokkaido University eigens eine Theorie entwickelt. Sie erklärt nicht nur die beobachtete Wellenlänge, sondern zeigt darüber hinaus, wie sich die Wellenstruktur der Zapfen allmählich fortbewegt. Indem Wellenberge und -täler unten schmelzen und weiter oben in gleichem Maße gefrieren, wandern sie den Forschern zufolge halb so schnell nach oben wie der Zapfen wächst. Diese Vorhersage harrt meines Wissens aber noch der Überprüfung.
Höhlenforscher haben für Erkenntnisse rund um Eiszapfen übrigens ebenfalls Verwendung. Zumindest erleichtern sie, weil ihr Wachstum universellen Prinzipien folgt, manches Experiment. Eiszapfen bilden sich nämlich auf ähnliche Weise wie Stalagtiten in Tropfsteinhöhlen – nur dass die einen binnen weniger Wochen eine beachtliche Länge erreichen, während die anderen dazu Jahrtausende benötigen.
http://www.spektrum.de/alias/schlichting/lange-winter-lange-zapfen/1139704
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