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Physik im Alltag und Naturphänomene, Physik und Kultur, Rubrik: "Schlichting! "

Schau nicht so genau hin

Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 43/5 (2012), S. 50 -51

Manche Dinge lassen sich nur aus der Ferne gesehen ausfinden,
und auch das Verkleinerungsglas kann auf Entdeckungen leiten.
Das Detail versteckt die großen Züge des Ganzen.
Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)

Grob verpixete Gesichter sind kaum zu erkennen – es sei denn, man vernichtet noch mehr Information.

Schon manch einer, der im westfälischen Münster am Picasso-Museum vorbeispazierte, betrachtete dort verblüfft den Boden. Das triste, graue Pflaster wird von Steinen in zwei unterschiedlichen Farben abgelöst, die seltsam ungeordnet verlegt zu sein scheinen (oben links). Selbst auf den zweiten Blick löst sich das Rätsel nicht ohne Weiteres. Erst wenn man den Platz von einem der oberen Stockwerke des Museumsgebäudes aus betrachtet, erkennt man – Picasso selbst (oben rechts).

Steigt man aber wieder herab und stellt sich erneut vor die Pflasterung, hat man allerdings kaum etwas dazugelernt: Wieder ist das Bild vor lauter Steinen kaum zu erkennen. Was sich aus der Distanz mühelos zu einem klar gezeichneten Gesicht fügt, zerfällt bei geringem Abstand offenbar unvermeidlich in eine lose Ansammlung von Flächen.

Diese Erkenntnis steht in krassem Gegensatz zu einer schon vom österreichischen Physiker Ernst Mach 1896 aufgestellten These, dass der Mensch einen Gegenstand unabhängig davon, wie groß dieser ist, visuell identifizieren kann. Bei unterschiedlichem Abstand zu einem Objekt ändert sich zwar die Größe seines Abbilds auf der Netzhaut des Auges, trotzdem erkennen wir stets denselben Gegenstand. Der gesunde Menschenverstand hält es ebenfalls mit Mach: Wieso soll ein Gesicht anders erscheinen, wenn man es aus einem Meter oder eben aus zehn Meter Entfernung betrachtet?

Das Porträt (unten, Bild a ) setzt sich aus 14 mal 20 quadratischen Pixeln mit unterschiedlichen Grauwerten zusammen. Erkennen Sie das Gesicht? Aus der Nähe ist das fast nicht möglich. Erst wenn Sie das »versteckte« Gesicht aus einigen Metern Entfernung betrachten, tritt es zu Tage. Wider Erwarten hängt der Effekt nicht einmal davon ab, wie gut Sie die abgebildete Person kennen. Denn auch das Porträt eines Ihnen vertrauten Menschen wird Ihnen völlig fremd werden, wenn Sie es mit einer Bildsoftware auf wenige Pixel herunterskalieren. Ein vergleichbares Verfahren namens »block masking« oder Blockmaskierung war erstmals 1973 von Leon D. Harmon und Béla Julesz ersonnen worden. Die Wissenschaftler der Bell Labs in New Jersey gingen davon aus, dass einem Betrachter schon wenige charakteristische Stellen eines Gesichts genügen, damit er es erkennen kann. Über ein Porträt legten sie ein quadratisches Gitternetz und ermittelten für jedes Quadrat dessen mittlere Helligkeit. Als Nächstes identifizierten sie die Graustufe, die dieser Helligkeit entsprach, und füllten das Quadrat gleichmäßig damit. So ersetzten sie das Bild nach und nach durch wenige Quadrate unterschiedlicher Grauwerte. Berühmt wurde das nach dieser Methode »verpixelte« Porträt von Abraham Lincoln, wie es auf den amerikanischen Fünf-Dollar-Scheinen abgebildet ist.

Während der Arbeit wurde den beiden klar, dass ein Betrachter ihrer Pixelbilder dem Erkennen nachhelfen konnte – nicht, indem er genauer hinsah, sondern im Gegensatz, indem er schielte, blinzelte, defokussierte oder den Kopf schnell hin- und herbewegte. Oder er wandte den Trick an, der schon Picasso zum Vorschein brachte, vergrößerte also den Abstand zum Bild. Wie kommt es, dass die Formen eines Gesichts in der Unschärfe plötzlich deutlich hervortreten, während sie sich einem noch so scharfen Blick entziehen?

Pixeln, bis das Bild »kippt«

 Harmon und Julesz zufolge nimmt – vereinfacht dargestellt – das visuelle System des Menschen unterschiedliche Strukturelemente über verschiedene Informationskanäle wahr. Grobe und feine Strukturen eines Bilds erreichen uns demzufolge durch je einen eigenen Kanal. Was bedeutet dies für Gesichter? Es entspricht dem physiologischen Befund ebenso wie der Erfahrung, dass wir bekannte Gesichter bereits aus großer Entfernung an ihrer Grobstruktur erkennen, selbst wenn wir noch keine Details unterscheiden können. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn wir ein Porträtbild in grobe Pixel umwandeln und dadurch die Details auslöschen, dürfte sich an seiner bloßen Erkennbarkeit nichts ändern.

Bis zu einer gewissen Pixelgröße ist das tatsächlich der Fall. Jenseits dieser Grenze kippt das Bild aber, und das Gesicht zerfällt in eine Ansammlung grauer Blöcke. Der Wechsel kommt dadurch zu Stande, dass die Wahrnehmung zunehmend durch die scharfen Kanten zwischen den Blöcken dominiert wird. Denn der Kanal für Details registriert nun nicht mehr die Einzelheiten des ursprünglichen Bilds, die ja herausgemittelt wurden, sondern vor allem die für das Gesicht völlig uncharakteristischen Kanten. Ab einer gewissen Pixelgröße springen sie so sehr ins Auge, dass sie all das unkenntlich machen, was uns über den Kanal für Grobstrukturen erreicht. Erst wenn man die scharfen Kanten mit einer Software wieder herausfiltert b , tritt eine ähnliche Wirkung wie beim unscharfen Betrachten ein: Die Kanten verschwinden, und das vergröbert dargestellte Gesicht wird wieder erkennbar. Kaum zu glauben, dass Bild b durch weitere Vernichtung von Information aus a hervorgegangen ist.

Verglichen mit den Fotos oben weist der »versteckte Picasso« übrigens Besonderheiten auf. Die Zahl der Graustufen ist auf ein Minimum, nämlich auf zwei, reduziert. Das erschwert das Erkennen, ebenso wie die perspektivische Verzerrung, die erst von einem höheren Stockwerk aus weit gehend aufgehoben wird. Andererseits sind die einzelnen Blöcke nicht so groß, die Verpixelung ist also weniger grob.

Eingesetzt wird das Phänomen vor allem in der Kunst. Schon die prächtigen Mosaiken der Antike kann man als Blockmaskierung auffassen. Aus der Nähe betrachtet lösen sie sich ebenfalls in farbige Fragmente auf. Aus der Entfernung, aus der ohnehin die meist großen Kunstwerke erst überblickt werden können, verschmelzen die Fliesen zu einem »Gemälde«. In neuerer Zeit waren es die Pointillisten, welche die Wirkung der Unschärfe in ihren Werken einkalkulierten. Dessen Hauptvertreter Georges Seurat trug punktförmige Farbtupfer mit möglichst reinen Farben penibel rasterartig auf. So nebeneinandergesetzt überzogen sich die Farben mit einem komplementärfarbigem Schimmer der Nachbarfarbe. Der Farbeindruck ergab sich erst beim Sehvorgang des Betrachters: Die Farbe mischte sich sozusagen optisch, nicht auf der Palette oder auf der Leinwand. »Schau doch genauer hin!«, sagen wir gelegentlich zu Menschen, die eine entscheidende Information übersehen haben. Überraschenderweise können Details aber auch stören. Dann ist mit diesem Rat niemandem geholfen, und es muss vielmehr heißen: »Schau nicht so genau hin, dann wirst du es schon erkennen!

Originalpublikation

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Diskussionen

8 Gedanken zu “Schau nicht so genau hin

  1. Picasso! 🙂

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von kopfundgestalt | 25. Januar 2020, 00:20
  2. Heute würde ich vermutlich nicht mehr so handeln.
    Aber wer weiß: Ich habe schon manchmal die Erfahrung gemacht, daß ein Künstler grösser war als mittlerweile angenommen.
    Picasso war ein Allroundkünstler, in jeder Sekunde seines Lebens…überspitzt gesagt.

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von kopfundgestalt | 30. April 2023, 00:22
    • Das kann man insbesondere von Picasso sagen. Die Idee des Museums diese Verpixelung zum öffentlichen Kunstwerk zu machen, finde ich allerdings genial. Leider wissen die Leute, die über das aus Ihrer Sicht chaotische Pflaster gehen meist gar nicht worin der Sinn besteht. Und zur Zeit, als ich den Aufsatz schrieb musste ich bei der Museumsleitung vorsprechen, um überhaupt in ein hoches Stockwerk zu gelangen, von dem aus das Bild so deutlich zu sehen ist. Das mag heute anders sein, ich habe mich lange nicht mehr damit befasst.

      Gefällt 1 Person

      Verfasst von Joachim Schlichting | 30. April 2023, 08:01

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