(c) H. Joachim Schlichting
Die Leidner Flasche
„Desto merkwürdiger, daß sich benutzen läßt, was wir überhaupt nicht kennen, als wäre es für uns da. Der Elektriker Siemens bestieg einmal die Cheopspyramide, schon unterwegs hatten ihm die Gesichter seiner Begleiter nicht gefallen. Oben blieb wenig Zeit, die Aussicht zu bewundern, denn die Beduinen griffen zur Pistole, plünderten Siemens aus. Aber dieser, dem schon lange die elektrische Ladung der Wüstenluft aufgefallen war, warf in höchster Schlauheit seinen Gummimantel unter die Füße, hob den durchnäßten Finger in die Luft und senkte ihn, gerade als der Scheich vor ihm stand, langsam auf dessen Nasenspitze. Ein Funke fuhr aus der lebenden Leidner Flasche hinüber. Die Beduinen rannten schreiend davon und Siemens, als er den mühseligen Abstieg, allein und ohne Magie, endlich hinter sich hatte, staunte selber noch lange über „seine“ Kraft. Er hatte sich durchaus als Zauberer bewährt; aber wie kommt die Aufklärung zum Aberglauben, die Regeldetri zum Hexeneinmaleins? – : sie lacht darüber und sieht ihm schließlich ähnlich. Der berechnete Funke sprang über, wie früher vielleicht die besprochene; diesmal »gut«, ein andermal »schlecht«, denn beides geht ihn nichts an“ (aus: Ernst Bloch: Spuren).
Wir müssen uns keine Gedanken darüber machen, ob diese lebende Leidener Flasche wirklich funktioniert hätte. Phantastische Erzählungen muss man nicht auf ihren platten Realitätsgehalt hin untersuchen. Interessant ist vielmehr, dass der Philosoph und Literat Ernst Bloch (1885-1977) naturwissenschaftliche Ideen in einen anspielungsreichen Handlungszusammenhang bringt. Da taucht der alte Siemens auf, der sich nicht nur in der Elektrizitätslehre auskennt, sondern sie auch auf die reale Welt zu übertragen vermag. Und zwar nicht nur in Form von industriell gefertigten elektrischen Erzeugnissen, sondern auch in Gestalt eines „lebenden“ Kondensators. Es genügen ihm nur ein paar Handgriffe, um einen Menschen dazu zu machen. Auf der Cheobspyramide, jenem Weltwunder einer versunkenen Hochkultur, zeigt sich die Kultur der naturwissenschaftlichen Technik als Zauber. Aufklärung durch Naturwissenschaften und Zauberei liegen je nach der Perspektive manchmal sehr eng zusammen.
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