Sandwüsten haben trotz ihrer Lebensfeindlichkeit etwas Faszinierendes. Das Erscheinungsbild der Dünen ist ihrem windgeborenen Ursprung entsprechend von einem stromlinienförmigen Profil geprägt und erinnert an organische Gestalten. Italo Calvino sieht es folgendermaßen: „Ich geriet in eine Sandwüste. Meine Füße versanken beim Weitergehen in Dünen, die irgendwie alle verschieden und doch alle fast gleich waren. Je nachdem, von wo aus man sie betrachtete, sahen sie aus wie liegende Körper. Dort schien sich ein Arm abzuzeichnen, der auf einem zarten Busen ruhte, die geöffnete Hand unter eine liegende Wange geschmiegt, hier schien ein junger Fuß mit schlanker Zehe hervorzuragen. Ich hielt inne, um diese möglichen Analogien zu betrachten…(Italo Calvino (1923 – 1985).
Paulo Coelho (*1947) geht noch einen Schritt weiter und glaubt, statt die Wüste als Ganzes zu betrachten sich auf den Anblick eines einzelnes Körnchens Sand beschränken zu können: „Du hast es nicht einmal nötig die Wüste zu verstehen: es genügt, ein einzelnes Sandkorn zu betrachten und du wirst alle Wunder der Schöpfung sehen“ (Coelho). Auch wenn man das so sehen kann, wird damit jedoch eine besondere Eigenschaft des Gestaltreichtums der Dünenlandschaften der Wüste übersehen, das selbstorganisierte Zusammenwirken sehr vieler Sandkörner und das emergente Hervortreten ganz neuer Strukturen, die aus der individuellen Beschaffenheit eines Sandkorns nicht herausgelesen werden können. Das zeigt sich insbesondere auch darin, dass die Dünen ständig in Bewegung sind und immer wieder umgestaltet werden; fast wie Wasserwellen, nur dass die typische Zeitkonstante eine ganz andere ist.
Durch den Vergleich der Wüstenformationen mit bekannten Strukturen aus dem vertrauteren Erfahrungsbereich (siehe oben), versuchen die Menschen auch hier einen anschaulichen Zugang zu gewinnen. Georg Christoph Lichtenberg sieht darin ein typisches Merkmal der menschlichen Sinnsuche: „Dieses ist schon längst gesagt, man kömmt aber von allen Seiten wieder darauf. So suchen wir Sinn in die Köperwelt zu bringen. Die Frage aber ist, ob alles für uns lesbar ist. Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren, und Nachsinnen auch eine Bedeutung in etwas bringen was nicht für uns oder gar nicht lesbar ist. So sieht man im Sand Gesichter, Landschaften usw. die sicherlich nicht die Absicht dieser Lagen sind“ (Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799).
Die Physiker können zwar beschreiben, wie es ganz allgemein zur Dünenbildung kommt. Insofern ist eine Dünenlandschaft für sie „lesbar“. Die individuellen Formen der einen oder anderen Düne sind für sie aber nicht lesbar. Die Lektüre muss daher den Dichtern und phantasiebegabten Menschen überlassen bleiben.
Weitere Fotos von Sanddünen findet man in der Bildersammlung (rechts auf Bildsymbol klicken)
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