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Physik im Alltag und Naturphänomene

Ein erstaunlicher Balanceakt in freier Natur

Eisskulpturen_en_miniatureDieses Foto bekam ich vor ein paar Tagen von einem Kollegen zugesandt. Ich finde es so schön und interessant, dass ich es auch jetzt noch – da ich mit dem Winter bereits abgeschlossen habe – hier zur Kenntnis geben und kurz beschreiben möchte. Zum einen kann ich mich der subtilen Ästhetik der filigranen, im Blau des Himmels leuchtenden Strukturen nicht entziehen, ohne es mit anderen zu teilen. Zum anderen erweist sich das Foto auch physikalisch als äußerst interessant.
Wir blicken auf flächenhaft erscheinende teilweise transparente zusammengeschmolzene und wieder erstarrte Eiskristallfragmente, die hier in fast akrobatisch erscheinender Weise auf dem dünnen Zweig eines Baumes balanciert werden und wie eine künstlerisch motivierte Inszenierung der Natur erscheinen. Jedenfalls fällt es schwer, darin das Produkt absichtslos ablaufender physikalischer Vorgänge und Naturgesetze zu sehen. Und doch ist es so.
Der Komplexität der fragilen Eisskulptur entsprechend gehe ich davon aus, dass seiner Entstehung kein einmaliger, einfacher Prozess zugrunde liegt, und daher nicht so etwas wie ein normaler Eisregen dafür verantwortlich sein kann. Vielmehr haben m.E. mehrere Vorgänge auf wunderbar kreative Weise zusammen gewirkt. Ich gehe davon aus, dass der Zweig ursprünglich mit einer lockeren Schneeschicht belegt war. Dieser Schnee ist dann anschließend infolge von Temperaturänderungen etwas zusammengeschmolzen und anschließend wieder erstarrt. Dadurch wurde das anfangs luftige Gebilde vereist und fest mit dem Zweig verbunden. Vermutlich waren mehrere Schmelz-Gefrier-Zyklen nötig, um das semitransparente, zerklüftete Eisgebilde hervorzubringen, das auf dem Foto zu sehen ist.
Erstaunlicherweise ist die Eisskulptur trotz dieser massiven Einwirkungen auf dem dünnen Zweig haften geblieben. Das kann man sich vielleicht dadurch erklären, dass ein möglicherweise zu Beginn vorhandener Überhang auf der einen Seite dadurch abgebaut wurde, dass dort leichter Substanz in Form von Schmelzwasser abfließen konnte als auf der anderen Seite. Auf diese Weise kam der Schwerpunkt der Eisskulptur schließlich ziemlich genau über der Unterstützungsfläche des Zweiges zu liegen.
Spektakulär bleibt trotzdem, wie die Skulptur durch eine frappierend dünne Eisbrücke über dem kleinen Eispodest auf dem Zweig balanciert wird. Auch hier muss man wohl davon ausgehen, dass der Schwerpunkt in etwa über dieser Verbindung liegt. Bei einer zu großen Abweichung könnte das damit verbundene Drehmoment leicht zum Bruch des Verbindungsstücks führen. Hinzu kommt, dass offenbar zumindest kleinere Luftbewegungen dem Konstrukt nichts anhaben konnten. Daraus ist zu schließen, dass die flächenmäßig größere linke Seite der Skulptur mehr Masse enthalten muss, also entsprechend dicker ist als die rechte Seite. Direkt zu sehen ist das aber nicht.
Wer immer noch zweifelt, dass es bei diesem Foto mit rechten Dingen zugeht, der sei noch auf einen allometrischen Aspekt hingewiesen, der die Glaubwürdigkeit unserer Argumentation etwas untermauern könnte. Wir blicken hier auf ein relativ kleines Gebilde. Die Skulptur ist nur wenige Zentimeter hoch. In diesem Fall genügt ein Verbindungsstück mit einem winzigen Querschnitt. Dahinter steckt die Tatsache, dass die Tragkraft einer Stütze proportional zur Querschnittsfläche ist. Die zu tragende Masse ist aber proportional zum Volumen. Und da das Volumen viel „schneller“ mit der Größe abnimmt, als die Fläche, ist bei kleinen Objekten eine verhältnismäßig dünne Stütze ausreichend. Ganz deutlich macht sich dieser allometrische Befund zum Beispiel bei Ameisen bemerkbar, die auf spirredünnen Beinchen ein Vielfaches ihrer Körpermasse zu tragen vermögen.

Ich bedanke mich bei Bernd Heepmann für die Überlassung des schönen Fotos.

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Diskussionen

3 Gedanken zu “Ein erstaunlicher Balanceakt in freier Natur

  1. Ein wahres Kunstwerk der Natur, wunderschön. Ein Dankeschön an das aufmerksame Auge des Fotografen!

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    Verfasst von kunstschaffende | 7. April 2016, 16:22
  2. Ich werde den Dank weitergeben. Für mich ist neben dem „Naturkunst“- Aspekt auch noch das Physikalische interessant. Auf den ersten Blick würde man sagen, dass so etwas statisch gar nicht möglich ist. Vielen Dank für den Kommentar!.

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    Verfasst von Joachim Schlichting | 7. April 2016, 16:39

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  1. Pingback: Physikalische Wintererzählung über einen abgesägten Baumstamm | Die Welt physikalisch gesehen - 22. Februar 2018

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