Spätestens seit Galileo Galilei (1564 – 1642) geht der Mainstream der Physik davon aus, dass die Natur lesbar sei wie ein Buch: „Die Philosophie ist in dem großen Buch der Natur niedergeschrieben, das uns immer offen vor Augen liegt, das wir aber erst lesen können, wenn wir die Sprache erlernt und uns die Zeichen vertraut gemacht haben, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, deren Buchstaben Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren sind; ohne deren Kenntnis ist es dem Menschen unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen“ (Galilei, Galileo: Il Saggiatore (Die Goldwaage) (1623)).
Trotz dieser Metaphorik wendet er sich dagegen, das Wissen über die Welt aus Büchern zu erlangen. Vielmehr hebt er die Bedeutung von Beobachtungen und empririschen Untersuchungen hervor. Ich stelle mir vor, wie er seine damit überflüssig gewordenen Bücher dazu benutzt, die Gesetze der Statik, insbesondere der Stabilität selbsttragender Bögen zu erforschen. Das würde dann vielleicht so ähnlich aussehen wie auf dem Foto.
Auch für Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) war diese Problematik fundamental und er stellt dazu folgende Überlegungen an (Sudelbücher A 74):
Die Kritiker lehren uns, uns an die Natur zu halten, und die Schriftsteller lesen es, sie halten es aber immer für sicherer sich an Schriftsteller zu halten, die sich an die Natur gehalten haben. Die meisten lesen die Regeln des Homer und wenn sie schreiben wollen denken sie an eine Stelle des Shakespear. Es ist freilich gut ein so großes Original vor Augen zu haben, allein es ist klar, daß wenn man eine solche Kopie nicht erreicht, die Entfernung davon nach der Seite zu geschieht die von der Natur noch weiter abweicht, oder es muß ein großes Genie sein, daß [es] sich der Natur noch mehr nähert als die erste Kopie derselben.
Geschieht aber dieses, so muß notwendig der Verfasser mehr die Natur als die Kopie zu erreichen gesucht haben, und man kann eigentlich alsdann nicht mehr sagen, daß er nach einer Malerei gezeichnet hat, sondern er bedient sich derselben nur so wie man sich in der praktischen Geometrie des Augenmaßes zuweilen bedient Messungen zu probieren, nicht um dadurch überhaupt zu sehen ob man gnau gemessen hat, sondern zu sehen ob man nicht durch einen Irrtum in der Rechnung einen Fehler begangen hat, der die Hälfte des Gesuchten beträgt.
Oh, dass ist ja genial, ein Bogen aus Büchern. Hat das was mit richtiger Druckverteilung zu tun? Oder ist es ein Fake!
LG Babsi
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Nein, liebe Babsi, das ist kein Fake. Ähnlich wie bei den Bögen in den Kathedralen, stürzen solche Konstruktionen nicht ein, wenn es erst einmal gelingt, den Bogen zu vollenden. Das ist gar nicht so einfach und bedarf vieler Hände, die die unfertige Konstruktion solange festhalten, bis das letzte Buch ganz oben eingefügt ist. Im vorliegenden Fall wurden die Bücher allerdings fixiert, um nicht bei der ersten Störung zusammenzufallen. Sehr schön beschrieben wurde das Phänomen von keinem Geringeren als Heinrich von Kleist (darauf gehe ich in einem früheren Beitrag ein: https://hjschlichting.wordpress.com/2013/06/27/stabilitat-durch-kollektives-sturzen/). In machen Science Centern kann man mit leichten (ungefährlichen) „Steinen“ solche Bögen selbst verfertigen (siehe in einem früheren Beitrag: https://hjschlichting.wordpress.com/2009/04/02/science-center-naturwissenschaft-als-erlebnis/). Selbst Erwachsene freuen sich wie Kinder, wenn der Bogen dann steht. Wenn du mal nach Winterthur kommst, solltest du unbedingt das Technorama besuchen. Da gibt es dieses Phänobjekt. LG Joachim
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Wie würden Sie derzeit das Verhältnis (Verbindung, Ähnlichkeit, An-Denken oder Struktureinpassen etc.) einschätzen, von Physik und Existenz? Von allem, was es gibt und allem, über das man direkt oder indirekt reden (oder nonsprachlich kommunizieren) kann. In den verschiedenen Sprachen und in der Sprache der Mathematik, der symbolischen Platzhalter und der Computersprache(n).
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Wenn ich Ihre Frage recht verstanden habe, würde ich sagen, dass Physik die Existenz der Welt voraussetzt. Schon dadurch, dass jemand Physik treibt, ist seine Existenz trivialerweise vorausgesetzt. Physik ist eine von verschiedenen Sehweisen: Ich kann die Welt lebensweltlich, literarisch usw. oder eben auch physikalisch betrachten und beschreiben. Jede Sehweise hat ihre eigene „Sprache“. Die „Sprache“ der Physik ist vor allem die Mathematik. Die Sehweisen sind weitgehend miteinander unvereinbar. Der Mensch kann aber mehrere Sehweisen annehmen. Viele Grüße, Joachim Schlichting
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Danke für die interessante Antwort. Allgemeinere Fragen sind meiner Einschätzung nach offen. Und potenziell interessant ist es, wenn der Gefragte/Gesprächsgegenüber aus seiner Sicht antwortet.
Mit Verhältnis von Physik und Existenz meinte ich, bezüglich des obigen Themas von der Lesbarkeit der Natur:
Wie weit ist die Sichtweise der Physik eine zunächst neutrale Sicht auf ein tatsächlich existierendes Buch der Natur. Und wie weit ist dieses Buch eine menschliche Ko-Produktion, z.B. als Strukturierung durch unseren Kopf, auch da wo keine Strukturierung vorhanden ist. (Dazu formulierte ja u.v.a. Kant die Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen für und durch den menschlichen Geist.)
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Ich denke, die Welt als Buch ist eine ziemlich naive Metapher für das Bemühen der Physiker, die Welt physikalisch zu beschreiben (sic!). Damit wird die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Welt das Physikalische (zum Beispiel: Wellenlänge, Atome usw.) gleichsam ablesbar an sich habe. Das klingt zwar gut und versucht diese Sicht der Dinge unangreifbar zu machen, sie wird aber meines Erachtens der Komplexität dessen, was wir „Welt“ nennen nicht gerecht. Die physikalische Sehweise ist m.E. vielmehr eine menschliche Konstruktion, in der versucht wird, die beobachteten Regelmäßigkeiten auf mathematische Strukturen abzubilden, um zu einer Berechenbarkeit zu kommen und die Welt auf diese Weise begreifbar zu machen. Das Erstaunliche und für mich Faszinierende ist, wie weit man damit kommt. Man kann daher nur Albert Einstein beipflichten, der einmal sagte: „Das ewig Unbegreifliche an der Natur ist ihre Begreiflichkeit.“
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Also, diese Bogenkonstruktion gefällt mir ausnehmend gut
Edgar
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Bücher sind eben nicht nur zum Lesen gut und auch wenn sie zum Lesen nicht gut sind, kann man neben Bögen auch noch andere Dinge mit ihnen machen. Carlos Maria Doninguez nennt einige Beispiele: „Im Laufe der Jahre habe ich Bücher den Zweck erfüllen sehen, einen wackeligen Tisch zu stützen oder, zu einem Turm aufgeschichtet und mit einem Deckchen darüber gebreitet, einen Beistelltisch abzugeben; viele Wörterbücher haben öfter Dinge geglättet und gepresst, denn als Nachschlagewerke gedient; und die Anzahl der heuchlerisch in den Regalen aufgestellten Bücher, die in Wirklichkeit Depots für Briefe, Geld und Geheimnisse sind, ist nicht zu unterschätzen. Die Menschen verändern auch das Schicksal der Bücher.“ (Carlos Maria Doninguez: Das Papierhaus. Frankfurt 2004). Gruß, Joachim
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Ich hab letztens meine Bücher gesichtet, werden wohl über Tausend Stück sein. In einem dicken Wälzer, den ich als Kind geschenkt bekam, hab ich doch tatsächlich noch ein vierblättriges Kleeblatt gefunden…
Edgar
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Das Kleeblatt sollte dann aber doppelt Glück bringen. Es ist nicht nur vierblättrig, sondern wurde auch zweimal gefunden! Gruß, Joachim
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