Der Satz des Pythagoras ist wohl allen Menschen bekannt, die durch unser Schulsystem gegangen sind. Ich kann mich noch deutlich erinnern, dass mich daran besonders die Hypotenuse beeindruckte. Nicht etwa, weil mich ihr mathematischer Gehalt faszinierte, sondern eher ihr geheimnisvoll anmutender Klang: Hy-po-te-nu-se. Für mich schwingt – ein wenig immer noch – etwas Delphisches in diesem Wort mit, so als würde mehr dahinterstecken als die Seite eines rechtwinkligen Dreiecks, die dem rechten Winkel gegenübersteht.
Dabei bringt der Satz doch eigentlich nur einen Aspekt der Beschaffenheit unserer Welt zum Ausdruck. Diese Auffassung kam mir zum ersten Mal, als ich nach der Schulzeit bei einem Künstler ein Objekt entdeckte, das ein rechtwinkliges Dreieck beinhaltete, über dessen Seiten die Quadrate als quadratische gläserne Gefäße ausgestaltet und teilweise mit einer farbigen Flüssigkeit (ich vermute, gefärbtes Wasser) gefüllt waren (siehe unteres Foto in einer eher nüchternen Version). Man konnte dieses Objekt drehen, sodass das Wasser zwischen den Gefäßen je nach Neigung hin- und her floss.
Wenn man das Pythagorasgefäß nach unten gedreht hatte, war es voll gefüllt und die beiden anderen Gefäße der Katheten waren leer. Und wenn letztere sich unten befanden, waren sie voll, während jetzt das Hypotenusengefäß leer war. Mit anderen Worten, man hatte es mit einer materiellen Manifestation bzw. einer „Verkörperung“ – oder besser noch „Verflüssigung“ im doppelten Wortsinn – des Lehrsatzes zu tun.
Allerdings gelingt es mir bis heute nicht so recht, die Bedeutung der unendlich vielen Zwischenzustände zu erfassen, in denen die Gefäße nur teilweise gefüllt sind. Bei der Umfüllung der Flüssigkeit und der Luft und beim Ziehen waagerechter Linien zwischen den Fluiden spielt offenbar die Schwerkraft eine wichtige Rolle, wodurch die Physik ins Spiel kommt.
Als ich vor Jahren das unten abgebildete Objekt in einem Science-Center entdeckte, war die alte Geschichte plötzlich wieder da mitsamt der klangvollen Hypotenuse.
Bei einem meiner späteren Besuche im Science-Center Phaeno in Wolfsburg beobachtete ich Kinder beim Umfüllen der Flüssigkeit von den Katheten zur Hypotenuse und umgekehrt. Sie konnten nicht genug davon bekommen, den Satz des Pythagoras ohne Stift und Papier auf spielend leichte Weise immer wieder aufs Neue zu beweisen. Irgendetwas faszinierte sie daran.
Vor einiger Zeit entdeckte ich durch Zufall in Wuppertal die oben abgebildete Skulptur. Sie wurde bereits 1964 von dem Wuppertaler Bildhauer Fritz Bernuth (1904 – 1979) geschaffen. Auch er stellte den auf die Fläche bezogenen Satz in einen dreidimensionalen Kontext und lässt ihn fortan durch den antiken Vogel der Weisheit in Form einer stilisierten Eule überwachen.
Servus Joachim
Ist schon faszinierend, den Pythagoras mit so einem drehbaren Teil zu veranschaulichen. ich muß mal schaun, ob es sowas auch im deutschen Museum in München zu bestaunen gibt, wenn ich dort wieder mal hinkomme.
Edgar
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Moin Edgar
als ich vor einem Jahr im Deutschen Museum in München war, gab es das noch nicht. Mit Sicherheit ist es im Phaeno in Wolfsburg zu finden. Gruß, Joachim.
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Wikipedia bietet weitere interessante Informationen zum „Satz des Pythagoras“ an.
https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_des_Pythagoras
Der Dichter Hans Christian Andersen verfasste sogar den „Satz des Pythagoras“ in Gedichtform-Samlede Skrifter.
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Titel des Gedichts – Formens evige Magie ((Et poetisk Spilfægteri))
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Danke für den Hinweis auf Wikipedia. Das passt sich gut, denn das Gedicht von Andersen ist für den nächsten Beitrag vorgesehen. Ich bin ihm vor vielen Jahren in deutscher Übersetzung begegnet.
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Danke!
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Sehr geehrter Herr Doktor Schlichting,
im Artikel „Der Satz des Pythagoras – revisited“ schreiben Sie:
„… deutlich erinnern, dass mich daran besonders die Hypothenuse beeindruckte. Nicht etwa, weil mich ihr mathematischer Gehalt faszinierte, sondern eher ihr geheimnisvoll anmutender Klang: Hy-po-the-nu-se.“
Damit haben Sie nun bei den Germanisten eine schwere Hypo-th-ek abzutragen, denn die lange Seite des Dreiecks hat es nie zum noblen „th“ gebracht, vor der Rechtschreibform nicht und danach auch nicht.
Es heißt ganz einfach „Hypo -t- enuse. Ich finde, damit klingt sie noch besser.
Mit besten Grüßen
Markus Rohner
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Sehr geehrter Herr Rohner,
vielen Dank für den Hinweis und vor allem für die nette Art in der Sie den Rechtschreibfehler zur Sprache bringen. In einer echten Publikation wäre das wohl nicht passiert – da gibt Lektoren. In einem Blog gibt es zum Glück Leser, die darauf aufmerksam machen, auch wenn es wie in diesem Fall 5 Jahre dauern könnte. Vielleicht werfen die Katheten der Zugehörigkeit zum Dreieck wegen ja irgendwann ihr „h“ ab.
Viele Grüße,
H. Joachim Schlichting
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