Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 8 (2017), S. 64 – 65
Noch viel wunderbarer als der einfache Spiegel
ist der durchsichtige Spiegel, zum Beispiel ein Fenster,
das auf eine Landschaft hinausgeht
Christian Morgenstern (1871–1914)
Scheiben mit Mehrfachverglasung verformen sich, wenn der Gasdruck in ihrem Inneren nicht dem äußeren Luftdruck entspricht. Die Fenster werden dabei zu Hohl- und Wölbspiegeln, wie Reflexionsmuster an sonnigen Tagen offenbaren.
Eines der zugleich markantesten und dennoch wohl am wenigsten bekannten urbanen Lichtphänomene ist das Lichtkreuz im Lichtkreis. Hat man es erst einmal bemerkt, wundert man sich, dass es einem nicht schon früher aufgefallen ist. Denn es ist eigentlich nicht zu übersehen. An jedem klaren Tag, vor allem morgens und abends bei tief stehender Sonne, sind die Fronten mancher Häuserblocks geradezu übersät von diesen Erscheinungen – besonders dann, wenn die Straße in Nord-Süd-Richtung verläuft.
Im Internet findet man viele esoterische Deutungen, von göttlichen Zeichen bis hin zu UFO-Erscheinungen. In diesen Zusammenhang passt ein Zitat des Experimentalphysikers Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799): »Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen«.
Zwar haben diejenigen, denen das Phänomen bislang nicht aufgefallen ist, ihre Augen wohl nicht bewusst vor ihm verschlossen. Doch zumindest unbewusst sind die Netzhäute der meisten Menschen schon von den seltsamen Kreuzen belichtet worden. Denn, um zur Aufklärung zu kommen: Es handelt sich um spiegelnde Reflexionen der Sonne an überaus alltäglichen städtischen Objekten, nämlich an doppeltverglasten Fenstern. Leicht konkav und konvex gewölbte Scheiben projizieren das Bild an die gegenüberliegenden Hauswände oder auf die Straße. Die Reflexe bewegen sich sogar – ebenso wie die Sonne verschieben sie sich in etwa zwei Minuten um ihren eigenen Durchmesser…
In jüngster Zeit werden wegen ihrer noch besseren Wärmedämmung immer mehr dreifach verglaste Fenster verbaut. Da liegt die Frage nahe: Hinterlässt die zusätzliche Scheibe einen sichtbaren Eindruck in den Reflexionsmustern? Bei Dreifachverglasung hat man es mit zwei luftdicht abgeschlossenen Kammern zu tun, die eine mittlere Scheibe voneinander trennt. Beide konservieren den Druck zum Zeitpunkt der Herstellung. Dreifachgläser dürften sich also in Gegenden mit unterschiedlichem Luftdruck ganz ähnlich verbiegen – zumindest die äußeren Scheiben. Die innere hingegen sollte flach bleiben. Denn die Kräfte durch die beiden Zwischenräume auf die mittlere Scheibe sind sowohl bei Unterdruck als auch bei Überdruck gegenläufig und gleich groß. Sie heben sich also stets auf.
Das müsste auch bei den Lichtkreuzen zu sehen sein. Zusätzlich zum Kreuz und zum Kreis erwarten wir ein Rechteck, das der mittleren Scheibe entspricht. Bei aufmerksamer Beobachtung solcher Projektionen erkennt man, dass es tatsächlich so ist (siehe Foto).
Wer die Lichtkreuze einmal gesehen hat, bemerkt sie immer wieder und wird dabei erkennen: Nicht immer ergibt sich ein Kreuz in einem Kreis. Die Abweichungen sind oft groß und reichen von bloßer Unschärfe bis zu Figuren, die nichts mehr mit einem Kreuz gemein haben. Ein perfektes Bild entsteht nur dann, wenn der Abstand der Projektionswand genau zur Brennweite durch die Krümmung passt und die Scheiben nicht zusätzlich unter Spannung stehen. Würde man die Reflexionen derselben Fensterfront an verschiedenen Tagen zu ähnlichen Zeiten beobachten, könnte man sogar Luftdruckunterschiede erkennen. Praktischen Nutzen hätte ein solches Barometer aber kaum – es wäre schließlich nur bei Sonnenschein abzulesen.
(Foto: mit freundl. Genehmigung von Rainer Wirz)
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