Wenn man einen Sandhaufen aufwirft und genügend lange daran arbeitet, wird man feststellen, dass der Haufen zwar größer, ab einem bestimmten Winkel aber nicht steiler wird. Es stellt sich ein kritischer Schüttwinkel ein, der sich bei weiterem Aufwurf von Sand selbstorganisiert einreguliert. Sobald nämlich in einem solchen kritischen Zustand weiterer Sand auf den Haufen niedergeht, werden mehr oder weniger kleine Lawinen ausgelöst, sodass wieder Sandkörner liegenbleiben, bis abermals Lawinen abgehen usw. Der kritische Zustand bleibt auf diese Weise erhalten. In der nichtlinearen Physik spricht man diesbezüglich von selbstorganisierter Kritikalität. Versucht man einen solchen Haufen, wie man ihn bei aktiven Sanddünen erleben kann, auf der kritischen Seite zu besteigen, so erweist sich das als sehr sportliches Unterfangen. Man glaubt den Spruch von den zwei Schritten voran und einen zurück am eigenen Leibe zu erfahren.
Der auf dem Foto gezeigte Trichter hat solche Flanken im kritischen Zustand. Es handelt sich um die „Höhle“ der Larve eines Ameisenlöwen, die sich von Ameisen, Käfern, Spinnen und anderen Kleintieren ernährt. Dazu müssen sie aber erst in die Falle tappen, indem sie unvorsichtigerweise in den Trichter geraten und ihn überkritisch machen. Denn dann gleiten sie mit einer Lawine unweigerlich der im Zentrum halb vergraben im trockenen Sand lauernden Löwenlarve entgegen. Sie rutschen ihr damit ähnlich in die Kieferzangen wie einem die sprichwörtlichen gebratenen Tauben ins Maul fliegen.
Wegen des kritischen Winkels kann die Larve ihren Fangtrichter (Foto) auch nicht auf die konventionelle Weise bauen, indem sie das Baumaterial an den Hängen des Trichters so platziert, dass dieser den richtigen Winkel hat. Vielmehr wirft er die Sandkörner hoch, bis der Hang den kritischen Winkel angenommen hat. Und das erkennt er offenbar daran, wenn schließlich im Mittel genauso viele Körner wieder herunterkommen, wie er hochwirft. Anders als auf diese Weise wäre es auch gar nicht möglich, weil durch ihr eigenes Gewicht der Abhang schon vorher kritisch werden würde, sodass er beim Verlassen unterkritisch wäre. Die Ameisen und Co. würden nicht mehr automatisch in die Falle rauschen, sondern hätten eine Chance zu entkommen. Manchmal, wenn es die Beutetiere schaffen, trotz abgehender Lawinen den Hang hinauf zu kommen, schleudert sie ihnen Sand hinterher, um den Hang in letzter Sekunde kritisch zu machen. Lange bevor die Physiker die selbstorganisierte Kritikalität entdeckt haben (siehe hier und hier und hier), macht sie sich die Ameisenlöwenlarve für ihren Lebensunterhalt zunutze.
Mit dem Bau des Trichters schlägt die Larve im wahrsten Sinne des Wortes zwei Fliegen mit einer Klappe. Da sie hauptsächlich in sandigen, oft wüstenartigen Gegenden lebt, schützt sie sich außerdem an den von der Sonne abgewandten Hangseite ihres Trichters vor Hitze und Austrocknung.
Phantastisch! Tiere können also DOCH Physik (schnelles kritisch machen des Abhanges)! Was zu beweisen war!
Nein, im Scherz: Man macht in jüngster Zeit immer neu Experimente, in denen man nachweist, daß Tiere sozusagen physikalische Grundkenntnisse besitzen. Nicht nur blosser Versuch und Irrtum, sondern irgendwo Know-how. Das kann man ja nachprüfen.
Dein Beispiel reiht sich da prächtig ein.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein Schnüffelexperiment von Hunden ein: Hunde haben zwei Pets. Lieblingspets.
Nun zieht man eine Spur mit dem Lieblingspet 1. Der Hund folgt der Spur und wirkt völlig irritiert, als er Pet 2 am Platz vorfindet. Offenbar trug er eine geistige Repräsentation von Pet 1 im Kopf.
LikeGefällt 1 Person
Eigentlich ist es gar nicht so erstaunlich, dass Tiere in einer bestimmten Weise „optimal“ handeln. Die Physiker stellen dann irgendwann fest, dass ein physikalisches Prinzip ausgenutzt wird. Aber ist das nicht immer so? Auch wenn ein Schmetterling fliegt, tut er das im Einklang mit den Gesetzen der Aerodynamik.
Das mit den Hunden kannte ich noch nicht. Aber ich weiß, dass Hunde Außerordentliches leisten/vermögen, insbesondere was den Geruchssinn betrifft.
LikeGefällt 1 Person
Ich kann mich dunkel an Experimente mit Raben erinnern, in denen diese neuartigen Situationen ausgesetzt wurden, in denn ein rudimentäres, physikalisches Verständnis nötig war. Also keine eigentlichen Automatismen.
Würde gerne danach suchen, war wohl eine Info vom DLF.
LikeGefällt 1 Person
Raben sind in der Tat für ihre Intelligenz bekannt. Ein Beispiel: https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/schlaue-raben-3/
LikeGefällt 1 Person
Danke! Das „ständige „Wettrüsten“ ist in der Natur per se vorhanden. Spannend wird es, wenn draus ein „ständiges kognitives „Wettrüsten“ wird.
Ich kannte diese Versuche. Spannend ist ja, daß man spätestens seit 2002 detaillierte Versuche entwirft und so immer mehr in Erfahrung bringen kann – spannend ist unsere Zeit!
LikeGefällt 1 Person