Der Kosmos ist ein Spiegel, so lautet eine altpersische Weisheit, und Christian Morgenstern sagt: „Der Mensch ist ein in einem Spiegelkerker Gefangener“. Dass dies nicht nur im übertragenen, sondern weitgehend auch im tatsächlichen Sinne gilt, erfährt man besonders in den Städten, in denen die Gebäude mit ihren Glasfassaden die gegenüberliegenden Gebäude spiegeln. Es ist ein Zer(r)spiegeln oder besser noch ein Spekulieren um seiner selbst willen.
Nicht immer gibt das Spiegelbild die Realität ohne Verzerrung wieder. Neben dem Zerspiegeln kommen – wie auf dem Foto zu sehen – immer mehr Zerrspiegelungen zur Geltung. Und das hat folgende Bewandtnis: Mit zunehmendem Umweltbewusstsein werden in Neubauten fast nur noch Doppelglasscheiben – inzwischen sogar Dreifachglasscheiben – verwendet und auch in Altbauten werden mehr und mehr einfach verglaste Fenster durch mindestens doppelt verglaste Fenster ersetzt. Das alles aus Gründen der Wärmeisolierung, denn die zwischen den Scheiben eingeschlossene Gasschicht (Luft oder andere Gase) hat eine sehr geringe Wärmeleitfähigkeit und vermindert die Energieverluste drastisch. Das zwischen den Scheiben eingeschlossene Gas steht unter dem Atmosphärendruck, der in dem Moment an dem Ort herrschte, an dem die Scheiben miteinander verklebt wurden. Dieser Druck zwischen den Scheiben bleibt auch weiterhin erhalten und reagiert auf Änderungen des äußeren Luftdrucks.
Werden die Scheiben nach ihrer Herstellung an einem höher gelegenen Ort verbaut, so ist der äußere Luftdruck geringer als der in der Scheibe konservierte und die Luft im Innern übt eine Kraft auf die Scheiben aus, die dadurch mehr oder weniger stark elastisch deformiert – in diesem Fall nach außen gewölbt – werden bis die Rückstellkraft der verformten Scheiben genauso groß ist. Landen die Doppelglasscheiben hingegen in tiefer gelegenen Gebäuden werden sie vom nunmehr stärkeren äußeren Luftdruck nach innen gewölbt. Das einfallende Licht trifft also in jedem Fall auf eine wölbspiegelartig und eine hohlspiegelartig gewölbte Scheibe und die reflektierten Abbilder der Umwelt werden dementsprechend deformiert.
Dennoch lässt sich meist an dem Spiegelbildern erkennen, ob es sich um eine Scheibe mit Überdruck oder Unterdruck handelt, dem die Verzerrung geschuldet ist. Denn das an der hinteren Scheibe gespiegelte Licht ist von geringerer Intensität, weil ein Teil des Lichts bereits an der vorderen Scheibe reflektiert wurde. Im vorliegenden Fall sind die Scheiben demnach nach außen gewölbt; um den Überdrück im Vergleich zum äußeren Luftdruck mit diesem ins Gleichgewicht zu bringen. Sie wurde wahrscheinlich in einer Fabrik hergestellt, die tiefer gelegen ist als das Gebäude, in dem die Fenster eingebaut wurden. Wetterbedingte Luftdruckänderungen reichen meist nicht aus, eine konkav gewölbte in eine konvex gewölbte umzustülpen.
Obwohl an jeder Grenzfläche der Scheiben bei senkrechtem Lichteinfall nur etwa 4% spiegelnd reflektiert werden, wird ein Durchblick in das dahinter gelegene (unbeleuchtete) Zimmer meist verhindert. Obwohl der weit überwiegende Anteil des Lichts ins Zimmer fällt, kommt infolge zahlreicher Absorptionsvorgänge vom Interieur einschließlich des möglicherweise aud dem Zimmer herausblickenden Beobachters nur wenig Licht wieder zum Fenster heraus.
Manche Fensterspiegelungen wirken wie abstrakte Kunst und haben schon so manchen Flaneur beeindruckt.
Ein sehr schöner Artikel.
Man hält es nicht für möglich, daß Luft solch eine Kraft entwickeln kann.
Kann man aus der Verzerrung erkennen, wie stark die Nach-aussen-Wölbung wohl ist?
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Danke, lieber Gerhard! Ja, das kann man. Bei einer runden Scheibe wäre es am einfachsten aus Abstand und Vergrößerung des gespiegelten Bildes zu berechnen. Bei einer rechteckigen Scheibe ist es etwas komplizierter, weil sie längs der Diagonalen am stärksten gekrümmt ist. In meinem Blog gibt es mindestens zwei Beitrage (Publikationen) zu den technischen Details der Verzerrungen. Aber die sind sehr fachlich.
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