„Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (Ludwig Wittgenstein 1889 – 1951). In der Tat: Alles, was auf dieser Welt sich selbst überlassen ist und keine Unterstützung hat, fällt: Dachziegel vom Dach, Regen aus den Wolken, der Reiter vom Pferd…Im letzteren Fall spricht man eher von einem Unfall. Auch der meist als Sündenfall bezeichnete Vorfall, der die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies zur Folge hatte, wird oft als Unfall bezeichnet. Mit ihm beginnt jedoch die von vielen weiteren Fällen (Glücks- und Unglücksfällen) gekennzeichnete Menschheitsgeschichte. Muss man sich da wundern, wenn das Bild, das sich die Menschheit (aus naturwissenschaftlicher Sicht) von der Entstehung der Welt macht, vom selben Typus ist. Demnach verdankt sich die Welt einer Explosion, dem sogenannten Urknall, der sich in einer unüberschaubaren Zahl auseinanderfallender Galaxien manifestiert. Da die Galaxien und ihre Bestandteile der
Gravitationskraft unterliegen, fallen diese außerdem aufeinander zu, ohne jedoch zwangsläufig ineinander zusammenzufallen. Oft ergeben sich kompliziertere Fallbewegungen: Sterne rotieren um das Zentrum einer Galaxie, Planeten wälzen sich um Sonnen (siehe Foto), Monde um Planeten.
Alles dreht sich, und alles dreht sich um den Fall. Selbst die Welt unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung ist davon nicht ausgenommen. Der radioaktive Zerfall brachte die Wissenschaftler auf die Spur eines in sich strukturierten Mikrokosmos. Bei der Erschließung dieser Strukturen standen aus dem Makrokosmos vertraute, mit der Fallbewegung verknüpfte Vorstellungen Pate. Das Planetenmodell des Atoms war das erste tragfähige Bild auf dem Wege zum unendlich Kleinen, auch wenn es inzwischen als überwunden gelten muss.
Seit dem Sündenfall ist alles hinfällig. Dies gilt insbesondere für die Vorgänge auf der Erde. Die Erde ist insofern ein Sonderfall, als sie bislang der einzige Ort im Weltall ist, von dem wir wissen, dass auf ihr Leben, insbesondere intelligentes Leben vorkommt. Ob dies allerdings ein vom Zufall bedingter Einzelfall bleiben wird, ist angesichts der Entdeckung immer weiterer Exoplaneten äußerst fraglich.
Durch das Leben auf der Erde wird die Vielfalt der Fälle noch gesteigert. Neben den Fallbewegungen, mit denen alle sich selbst überlassenen Gegenstände in Richtung auf den Erdmittelpunkt zufallen, (genannt seien hier nur der Wasserfall, der Schneefall, das Hinfallen, die Hinfälligkeit), sind die Lebewesen in besonderer Weise mit Fällen verbunden. Das Leben ist ganz allgemein dem Zerfall in anorganische Konstituenten (und anderen Verfalls- und Ausfallserscheinungen, die hier nicht behandelt werden können) ausgesetzt. Dies äußert sich nicht nur in der Sterblichkeit, sondern auch in der Produktion großer Abfallmengen, die sich als ernsthafte Gefahr insbesondere für höheres Lebens auszuwachsen droht. In düsteren Szenarien ist vom Rückfall auf niedrigere Entwicklungsstufen der Evolution oder gar vom Wegfall des höheren Lebens die Rede, wodurch dieses zu einem bloßen Zwischenfall der kosmischen Entwicklung degradiert werden würde. Selbst so alltägliche Verrichtungen wie etwa das Gehen oder Stehen sind das Ergebnis aktiver Auseinandersetzungen mit dem Fall, bei denen dieser sowohl ständig überwunden werden muss als auch ausgenutzt wird.
Die Menschen selbst sind außerdem zahlreichen metaphorischen Fällen ausgesetzt. Im Krieg fallen Armeen in andere Länder ein und fallen übereinander her, wobei zahlreiche Soldaten auf dem Schlachtfeld fallen. Aber auch im zivilen Leben gibt es Vorfälle, die zu den negativen Aspekten des Falls zählen. Man denke nur an Überfälle, Ausfälle, Unfälle und Streitfälle. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den Fall des Richters Adam in Kleists Zerbrochenen Krug, der schon vom Namen her mit dem Sündenfall in Verbindung gebracht werden kann:
„Ihr stammt von einem lockern Ältervater,
Der so beim Anbeginn der Dinge fiel,
Und wegen seines Falls berühmt geworden…“
Auch bei Krankheiten ist oft der Fall im Spiel. Man denke nur an die Fallsucht, den Schlaganfall, den Virenbefall, den Durchfall und den Rückfall, vom Eindruck, daß Krankheiten manchmal geradezu vom Himmel zu fallen scheinen, ganz zu schweigen. Aber nicht jeder Fall ist ein Unglücksfall oder ein Notfall. Es gibt auch Glücksfälle, die unser Wohlgefallen finden. Dazu gehört der gute Einfall, an dem oft ein weiterer Fall, nämlich der Zufall beteiligt ist. Großen Gefallen drücken wir auch mit dem Beifall aus, den wir anderen spenden oder es gefällt uns selbst solchen zu bekommen.
Wenn man manchmal auf den Gedanken verfällt, sich einfach fallen lassen zu können, möchte man sich paradoxerweise durch diesen Fall der ständigen Aufmerksamkeit der in den verschiedensten Verkleidungen lauernden Wechselfälle des Lebens entziehen. Falls dabei auch an das Gefühl der Kräftefreiheit als eine Art absoluter Leichtigkeit gedacht wird, hat man den Fall an sich jedenfalls überwunden.
Sie haben den Fall gelöst, danke! 😉😂
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Nicht ganz; einige Fälle sind noch in Arbeit. Wenn sie anfallen, werde ich mich darum bemühen, dass sie auffallen bevor sie verfallen. 🙂
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Der inspirierend aus-gefallene Text wäre mir so nicht ein-gefallen 😉
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Schön gesagt! Jedenfalls habe ich mich bemüht, weder ausfallend noch einfäl(l)tig zu werden.
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Three Fall spielte gestern beim Jazzfestival auf. Obwohl es mittlerweile „Fall“ ist, fand ich den Vortrag gefällig, er war mein Fall!
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Schön, dass du in meinen Wortspiel-Rhythmus zum Fall des Falls konstruktiv musikalisch einstimmen konntest.
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