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Physik und Kultur

Die Welt jenseits der geschliffenen Gläser (Lichtenberg 4)

linse_img_9674_rvDie Verbindung von Anschauung und Denken, von Wahrnehmen und Begreifen machen die Welt in der Metaphorik der Physik des 17. und 18. Jahrhunderts zu einem Buch mit Zeichen, die gelesen und verstanden werden können und wollen. Beim Lesen der Welt zeichnen sich die neuzeitlichen Physiker dadurch aus, dass sie es erstmalig verstehen, mit Hilfe der optischen Linse das wissenschaftliche Sehvermögen über die Möglichkeiten des bloßen Auges hinaus zu steigern. Mit der Linse gelingt es die Lesbarkeit der Welt auf vorher nicht zu erahnende Dimensionen auszuweiten  (siehe ausführliche Darstellung). Wie könnte man die überragende Bedeutung der Linse und der Menschen, die sie schufen, überzeugender darstellen als es Georg Christioph Lichtenberg (1742 – 1799) mit poetischem Einfühlungsvermögen gelingt, wenn er den fast profanen Vorgang der Linsenherstellung mit ihren geradezu wunderbaren Möglichkeiten verknüpft?
„Ohne hieraus demüthigende Betrachtungen für den Menschen zu ziehen, die er, wenn er sie braucht, in der Nähe finden kann, laßt uns vielmehr den Geist des Geschöpfs bewundern, das sich diese Kenntnisse durch Stückchen Glas, die es auf Staub abrieb, zu verschaffen gewußt hat; des Geschöpfs, das mit den Augen eines Engels, möchte ich sagen, bald in den Tempel des Allmächtigen hinaus schaut, und dann wieder mit den Augen der Milbe, dem Spiel jener beseelten Bläschen zusieht, ich meine der Thiere, deren Millionen zu gleicher Zeit durch das kleinste Oehr einer Nadel schwimmen könnten“ (G.Chr. Lichtenberg: Über das Weltgebäude). Für die Entwicklung der neuzeitlichen Physik ist diese mit Hilfe des Fernglases und des Mikroskops zugänglich gewordene „Welt jenseits der geschliffenen Gläser wichtiger, als die jenseits der Meere, und wird vielleicht nur von der jenseits des Grabes übertroffen“ (J 937).
Der Mensch – so Lichtenberg an anderer Stelle – habe zwar nicht die Macht, „die Welt zu modeln, wie er wolle, aber dafür die Macht, Brillen zu schleifen, wodurch er sie schier erscheinen machen könne, wie wir wollen“. Hier spürt man bereits die feine Ironie, mit der er die Errungenschaften wieder relativiert, indem er die Dichotomie von Sein und Schein ins Spiel bringt. Mit geschliffenen Gläsern kann man zwar viel mehr sehen als ohne sie. Aber wie ist es mit der Realität dessen bestellt, was man auf diese Weise zu Gesicht bekommt? „Ob ich einen Soldaten durch ein poleydrisches Glas, oder eine Compagnie würklicher mit bloßen Augen ansehe, auf der Netzhaut ist beides einerlei“ (C 313).

(Die in Klammern angegebenen Buchstaben-Ziffernkombinationen beziehen sich auf die entsprechend angeordneten Zitate in Lichtenbergs „Sudelbüchern“).

 

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Diskussionen

3 Gedanken zu “Die Welt jenseits der geschliffenen Gläser (Lichtenberg 4)

  1. So richtig weiter bringt den Menschen der geschärfte Durchblick leider auch nicht.

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    Verfasst von aquasdemarco | 10. November 2017, 07:28

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  1. Pingback: Aktivitäten im Bierglas | Die Welt physikalisch gesehen - 7. April 2018

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