Thales von Milet ist nicht nur durch seine glänzenden Einfälle im Bereich der Mathematik und Physik bekannt geworden, sondern ebenso durch eine Art Unfall: Beim Betrachten der Sterne fällt er in eine Grube. Dieser Vorfall brachte ihm keinen Beifall, sondern abfällige Bemerkungen seiner thrakischen Magd ein. Ihrer lebensweltlichen Überzeugung entsprechend, war es abwegig, in die Ferne zu schweifen und das Naheliegende zu übersehen. Offenbar hat weder das Missgeschick des Meisters noch der Spott darüber seiner Größe etwas anhaben können. Was gilt schon eine ausfallend werdende Magd, die zudem aus dem kulturell als rückständig angesehenen Thrakien stammte? Dennoch ist diese Anekdote nicht zum Verstummen zu bringen, macht sie doch auf eindrucksvolle Weise auf Differenzen zwischen unterschiedlichen Sehweisen aufmerksam, denen verschiedene sozio- kulturelle, visuell- begriffliche u.a. Hintergründe entsprechen: Während die thrakische Magd das lebensweltliche Denken verkörpert, das zu einer unmittelbaren, vom Gefühl und subjektiven Empfinden her bestimmten Einschätzung des Weltgeschehens führt, steht der griechische Gelehrte für das auf abstandnehmender Beobachtung, Trennung von Subjekt und Objekt, auf Unparteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit beruhende Handeln. Thales wird als einer jener großen alten Männer angesehen, die den physikalischen Blick begründeten. Um deutlich zu machen, daß Thales trotz seines unglücklichen Falls nicht zu jener Spezies abgehobener Denker gehört, die sich in folgenloser und abwegiger geistiger Spekulation erschöpften, gibt es bereits von Aristoteles eine Gegenanekdote: „Man beschimpfte Thales wegen seiner Armut, die zeige, wie unnütz die Philosophie sei. Da sah Thales aufgrund seiner Astronomie eine reiche Ölernte voraus, und noch im Winter, als er gerade ein wenig Geld hatte, sicherte er sich durch eine Anzahlung die gesamten Ölpressen in Milet und Chios; er konnte sie billig mieten, da niemand ihn überbot. Als die Zeit kam, war plötzlich eine starke Nachfrage da; da vermietete er sie nach seinen Bedingungen weiter, verdiente viel Geld und bewies, daß Philosophen leicht reich sein können, falls sie wollen, aber daß dies nicht ihr Ziel ist“ (Aristoteles).
Thales Fall ist sowohl metaphorisch als auch tatsächlich eine ausdrucksstarke Fallstudie für die den Naturwissenschaften inhärente Dichotymie zwischen weltfremder Theorie und praktischer Anwendung. Zum einen musste der Blick weg von den einer unmittelbaren Konzeptualisierung sich widersetzenden komplexen Vorgängen auf der Erde hin zu den einfachen Vorgängen am Himmel insbesondere den Bewegungen der Planeten und des Mondes gerichtet werden. Dieser Blickwechsel kann als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Wissenschaft angesehen werden, die nicht nur zu einer abstrakten theoretischen Beschreibung der Welt, sondern auch zur naturwissenschaftlichen Technik führte, die einen ihrer Höhepunkte mit dem Betreten des Mondes durch den Menschen feierte. Die kontemplative Annäherung an den Mond endete somit in einer realen Inbesitznahme.
Auch Galilei kommt über den Blick zum Himmel und seiner Darstellung dessen, was er dort sieht, zu Fall. In diesem Fall fällt er zwar nicht in eine Grube, sondern in die Hände der Inquisitatoren. Weil er der kopernikanischen Sehweise, daß sich die Erde um die Sonne dreht, Ausdruck verleiht, wird er zum Fall für die Kirchenjustiz, die ihn durch einen erzwungenen Widerruf wissenschaftlich und menschlich zu Fall bringt.
Wenn man den Blick nicht hebt, ist man eigentlich kein Mensch.
Aber selbst Affen wurden spirituelle Fähigkeiten durch die Affenforscherin Jane Goodall beigemessen, die sie einst an einem Wasserfall in seltsamer Tanz-Meditation angetroffen hatte.
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Das wäre ein zusätzlicher Aspekt zu meiner „Fallstudie“.
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