Nicht daß man etwas Neues zuerst sieht, sondern daß man das Alte,
Altbekannte, von jedermann Gesehene und Übersehene wie neu sieht,
zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus.
Friedrich Nietzsche
Wie verfiel Galilei auf die Idee des freien Falles, wonach – anders als es die Beobachtung von Bewegungen auf der Erde nahelegt – alle sich selbst überlassenen Gegenstände gleich schnell (genauer: mit gleicher Beschleunigung) zur Erde fallen? Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß die Idee vom Himmel gefallen ist und zwar im wörtlichen wie im sprichwörtlichen Sinne. Denn zum einen könnte Galilei aus der Beobachtung, daß die Himmelkörper auf einfachen gleichbleibenden Bahnen umlaufen, die Frage zugefallen sein: Wie würden sich Gegenstände auf der Erde verhalten, wenn sie sich wie die Himmelskörper ungehindert bewegen könnten? Zum anderen ist zumindest rein phänomenologisch kein Zusammenhang zwischen irdischen und im Unterschied zu ihnen geradezu als fallunfähig angesehenen Himmelskörpern zu erkennen.
Eine Situation, in der sich die Gegenstände so frei wie möglich von Einflüssen der Umgebung bewegen können, liegt vor, wenn man sie los und damit fallen läßt. Die aus der Alltagssprache bekannte Redewendung, sich einfach fallenzulassen, d.h. sich von allen Einschränkungen und Bedenken zu lösen, und den Dingen ihren freien Lauf (bzw. Fall) zu lassen, bringt diese Tatsache sehr schön zum Ausdruck. Allerdings weiß man aus Erfahrung, daß trotzdem kein einheitliches Verhalten der fallenden Körper zu beobachten ist: Im Gegensatz zu dem was Galilei behauptet, fallen verschiedene Körper unterschiedlich schnell. Nach aristotelischer Vorstellung fallen Körper mit einer Geschwindigkeit proportional zu ihrer Schwere. Eine Kugel fällt ohne Umschweife zu Boden, während ein Blatt – wie jetzt im Herbst allenthalben zu beobachten ist – in ganz unterschiedlichen Figuren vom Baum zu Boden geht.
Doch Galilei „beweist“ auf bestechend elegante Weise, daß Aristoteles auch in dieser Hinsicht unrecht hat. Wenn ein schwerer Körper schneller falle als ein langsamer – so in etwa seine Argumentation – dann müsse ein aus dem schweren und leichten zusammengesetzter Körper eine dazwischen liegende Geschwindigkeit annehmen, weil der schwere den leichten schneller, der leichte den schweren aber langsamer mache. Andererseits sei der zusammengesetzte Körper noch schwerer als der schwere und müsse demnach noch schneller fallen. Dieser Widerspruch lässe sich aber nur lösen – so Galilei – , wenn man unterstellt, daß beide Körper gleich schnell fallen.
An diesem Beweis fällt jedoch auf, daß das Verhalten der Natur offenbar durch reines Denken gewonnen wird. Von Empirie keine Spur. Galileis angeblichen Fallversuche vom schiefen Turm von Pisa sind wohlweislich von ihm nie durchgeführt worden. „Hinter seinen Entdeckungen steht nicht die nüchterne Geschäftigkeit des besessenen Experimentators, der sein Datenmaterial so lange vermehrt, bis es ihm die verborgene Formel preisgibt, sondern die spekulative Antizipation des immer noch an den aristotelischen Prämissen hängenden Vertrauens auf die schlechthin einfachen Mittel der Natur zu ihren Wirkungen“ (Hans Blumenberg: Siderius Nunctius 1980).
Und darin liegt Carl Friedrich von Weizsäcker zufolge die eigentliche Bedeutung Galileis Schritts, „die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren“ (Carl Friedrich vonWeizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft 1966). Galilei fällt gewissermaßen aus dem Rahmen der bis dato unhinterfragt akzeptierten aristotelischen Praxis. Er setzt sich über Alltagserfahrungen hinweg, „weil (so könnte man mit Christian Morgenstern sagen) so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“. Aber er tut es mit einer tieferen Berechtigung, denn der himmlischen Herkunft seiner Idee entsprechend hat er den freien Fall nicht für die profane Welt, sondern für das Vakuum, (aus dem der größte Teil des Himmels besteht) konzipiert, wo keine Widerstandskräfte auftreten und der Fall frei, also unabhängig von Größe und Form des Körpers erfolgt. So gesehen ist sein Beweis tautologisch oder trivial und allenfalls von rhetorischer Bedeutung. Physikalisch denken im Sinne Galileis und der neuzeitlichen Physik seit Galilei heißt also vor allem, die Grenzen der jeweiligen Situation zu denken und dies als Gestalt zu sehen, im vorliegenden Fall als Vakuum bzw. als symmetrische Falllinie eines im Vakuum fallenden Gegenstandes.
Der geniale Einfall Galileis auf dem Wege zum freien Fall und damit zur neuzeitlichen Physik liegt darin, das Phänomen des Fallens von realen Körpern zu separieren und aus dem empirischen Kontext herausgelöst anzusehen. Denn, „wenn man sagt – die Körper fallen – steckt die Schwierigkeit nicht in der Synthese, sondern in der vorangegangenen Analyse, bei der man ein Ensemble von Phänomenen in Körper und in Fall zerlegt hat“ (Paul Valéry: Cahiers 1988). Da zur Zeit Galileis die Existenz des Vakuums auf der Erde weder denkbar (horror vacui), noch ein luftverdünnter Raum realisierbar war, – dies gelang erst einem seiner Schüler Evangelista Torricelli, aufgrund dieses Einfalls – haben sicherlich Erfahrungen im Umgang mit anderen Medien wie Wasser, Öl, Honig usw. geholfen, eine Folge abnehmenden Widerstands bis hin zum Grenzfall des völligen Verschwindens zu konzipieren, der mit dem Begriff des Vakuums zusammenfällt. Darin verhalten sich alle Körper gleichartig, indem sie mit derselben Beschleunigung fallen.
Der freie Fall geht so gesehen aus der Dekonstruktion realer Fälle bis hin zum Grenzfall eines in jedem Fall invarianten Elementarereignisses hervor. Seine enorme Erschließungsmächtigkeit entfaltet er dann, wenn ein beliebiger konkreter realer Fall in seiner Differenz zum invarianten Hintergrund des freien Falls betrachtet und damit unter einheitlichen Gesichtspunkten beschrieben wird. Erst dadurch wird die Differenz begrifflich und begreiflich (etwa als Luftwiderstand), erfahrbar und kalkulierbar. So gesehen gilt, was Luigi Pirandello sehr viel allgemeiner verstanden wissen will, mutatis mutandis auch in diesem Fall: „Die überflüssigen Einzelheiten verschwinden, und alles, was der lebendige Zusammenhang eines Charakters verlangt, wird verschmolzen zur Einheit eines Seins, das weniger real und dennoch viel wahrer ist“ (Luigi Pirandello: Caos 1987).
Diskussionen
Es gibt noch keine Kommentare.