Schlichting, H. Joachim. Physik in unserer Zeit 48/6 (2017), S.307
Kürzlich wies der englische Wissenschafts-journalist Marcus Chown auf ein schon in der Antike diskutiertes geophysikalisches Rätsel hin [1]. Demnach hat der griechische Philosoph Poseidonius um etwa 100 v. Chr. an der Atlantikküste von Spanien in der Nähe des heutigen Cadiz bemerkt, dass der Wasserstand in einem Brunnen immer dann sinkt, wenn aufgrund der Gezeiten die Flut kommt und umgekehrt.
Der griechische Geograph Strabon berichtet darüber in seiner Geographika: Es gibt „in dem HeraklesHeiligtum in Gadeira einen Brunnen, zu dessen (trinkbarem) Wasser man ein paar Stufen hinabsteigt; dieser verhalte sich entgegengesetzt zu den Gezeiten des Meeres: Während der Flut versiege er, während der Ebbe fülle er sich“ [2]. Dieses Phänomen ließ sich erst in der Neuzeit erklären, nachdem die Gezeiten mit Hilfe der Newtonschen Gravitationstheorie auf die Anziehung von Mond und Sonne zurückgeführt wurden. Entscheidend ist dabei, dass durch Ebbe und Flut nicht nur das Wasser der Meere gesenkt und gehoben wird, sondern auch die festen Bestandteile der Erde. Dieser Vorgang läuft allerdings wesentlich unauffälliger ab als Ebbe und Flut. Zweimal täglich hebt und senkt sich die Erde in unseren Breiten um bis zu 21 Zentimeter.
Allerdings machen sich die Wirkungen der Gezeiten insgesamt auf lange Sicht durch eine Zunahme der Tageslänge bemerkbar. Denn durch die Gezeitenreibung in den festen Bestandteilen der Erde nimmt die Rotationsenergie ab und verlangsamt die Drehung [3]. In hundert Jahren verlängert sich der Tag um etwa 2 Millisekunden. Das Endstadium eines solchen Vorgangs hat der Mond wegen seiner viel geringeren Masse bereits erreicht. Er wurde infolge der Gezeiten so stark abgebremst, dass er sich bei jedem Umlauf um die Erde genau einmal um sich selbst dreht und folglich der Erde stets dieselbe Seite zeigt. Astronomen sprechen von einer gebundenen Rotation. Doch wie kann das Anheben der festen Bestandteile der Erde durch die Gezeiten den Wasserstand in einem Brunnen senken?
Chown bemüht zur Erklärung das Modell eines Schwamms. Wenn das poröse Gestein wie ein Schwamm bei Flut aufwärts gestreckt werde, würde es Wasser aus dem Brunnen saugen. Die mit dieser Modellierung verbundenen Vorstellungen sind jedoch problematisch. Denn dabei wird implizit davon ausgegangen, dass das Wasser nicht ebenso von der Anhebung betroffen wäre wie die festen Felsund Sandteile. Plausibler erscheint mir, dass mit der Aufwölbung die vorherrschende dichteste Packung der mit Wasser gefüllten Felsund Sandschichten aufgehoben wird und dem Wasser mehr Platz bieten. Das Wasser kann daher den zusätzlichen Raum einnehmen, was zwangsläufig mit einer Absenkung des Niveaus verbunden ist.
Ein solcher Vorgang lässt sich mit einem einfachen Experiment demonstrieren. Die festen, aber porösen, wasserhaltigen Schichten werden durch einen flexiblen Behälter mit wassergesättigtem Sand modelliert. Anfangs steht das Wasser etwas über dem Sand. Drückt man jetzt den Behälter seitlich zusammen, sodass der Sand etwas angehoben wird, fällt seine Oberfläche sofort trocken. Obwohl das in den Zwischenräumen der Sandkörner enthaltene Wasser von der Aufwölbung genauso betroffen ist wie der Sand, steigt es nicht wie dieser an, sondern sinkt. Ursache ist die Tatsache, dass der Sand vor der Aufwölbung aufgrund der Energieminimierung eine dichteste Packung der einzelnen Sandkörner besaß. Durch die Aufwölbung wird diese Konstellation verlassen; die Zwischenräume werden größer, und das Wasser findet mehr Platz, sodass sein Niveau zwangsläufig sinkt [4].
Literatur
[1] M. Chown, New Humanist, Winter 2015, http://marcuschown.com/wpcontent/uploads/2015/11/Rock-tides-.pdf
[2] S. Radt (Hrsg.), Strabons Geographika, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, Bd. 1, 443.
[3] H. J. Schlichting, Prax. Naturwiss. Phys., 1986, 35(2), 21.
[4] H. J. Schlichting, Spektrum d. Wiss. 2011, 8, 54.
Sehr schön! Danke!
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🙂
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