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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie, Physik und Kultur

Fallen durch Rollen – Fall 4

Wenn alle Körper gleich schnell fallen, dann genügt die Untersuchung eines einzigen Gegenstands um festzustellen, wie schnell etwas fällt. Schon die Erfahrung, daß ein aus größerer Höhe fallendes Objekt gefährlicher ist als eines, das aus niedrigerer Höhe fällt, zeigt, daß die Geschwindigkeit während des Falls zunehmen muß. Die Frage, in welchem Maße sie zunimmt, war zur Zeit Galileis eine große Herausforderung. Denn der freie Fall ist normalerweise mit Geschwindigkeiten verbunden, die jenseits des menschlichen Reaktionsvermögens liegen. Außerdem standen Galilei keine geeigneten Uhren zur Verfügung.
Ein weiterer großer Einfall, der ebenfalls zum Meilenstein für die neuzeitliche Physik und zum weiteren Problemfall für das Lehren und Lernen von Physik werden sollte, kam Galilei in dieser Situation zur Hilfe. Er fand wesentliche quantitative Aussagen zum Fallgesetz durch Kugeln, die er eine schiefe Ebene herunterrollen ließ (siehe Foto). Mit der schiefen Ebene gelingt es ihm den „Fall“ so zu verlangsamen, daß der eigene Pulsschlag oder das ausfließende Wasser einer Wasseruhr ausreicht, die Geschwindigkeitsänderungen pro Zeiteinheit zu messen. Er arbeitet also mit einer Art Zeitlupe, indem er von der physikalisch falschen, für eine qualitative Bestätigung der Erwartung aber brauchbaren Voraussetzung ausgeht, daß das Fallen durch Rollen ersetzt werden könne.
Durch Verkleinerung der Neigung der Ebene schuf Galilei eine Situation, die der virtuellen Verminderung der Stärke der Gravitationskraft gleichkommt. Die schiefe Ebene gehört damit zur großen Ahnenreihe paradigmatischer Geräte: „Die schiefe Fläche des Galilei, der Perpendikel des Huygens, die Quecksilberröhre des Torricelli, die Luftpumpe des Otto Guericke, und das gläserne Prisma des Newton haben uns den Schlüssel zu großen Naturgeheimnissen gegeben“ (Immanuel Kant. Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen 1968).

Foto: Schiefe Ebene des Galileo  Galilei im Museo de storia della scienca in Florenz.

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Diskussionen

6 Gedanken zu “Fallen durch Rollen – Fall 4

  1. Newton muß aber natürlich klar gewesen sein, daß die Reibung das Ergebnis verzerrt.
    NÄHERUNGSVERFAHREN SIND GENERELL INTERESSANT.( Entschuldigung groß). Man muß eben wissen, was vernachlässigbar ist und was nicht. Aber ohne geeignete Näherungsverfahren ist man wohl oft aufgeschmissen, meine ich als Laie.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 18. Januar 2019, 16:00
    • Newton hat diese „Verzerrung“ aber nicht für fundamental gehalten. Ohne die Vernachlässigung der Reibung gäbe es seine Gesetze nicht. Reale Vorgänge werden stets mit Bezug auf diese Idealgestalten als kalkulierbare Abweichungen davon betrachtet. Daher findet ein Großteil der physikalischen Forschung im Vakuum statt, im Ultrahochvakuum…
      Allerdings gibt es da ein Problem. Reibungsvorgänge sind nicht nur störend, sondern in weitaus größerem Maße konstruktiv. Denn ohne Reibung könnten wir nicht laufen oder fahren, gäbe es keinen Antrieb. Kein Vorgang ginge zu Ende: Ein hüpfender Ball würde ewig hüpfen und was man sich sonst noch alles ausdenken könnte.
      Diese Dinge auseinanderzuhalten ist ein epistemologisches und didaktisches Problem, das leider in der Physikausbildung selten thematisiert wird.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 18. Januar 2019, 18:54
      • Ich denke – gerade – auch, daß in der Biologie ähnliches gilt. Man soprach immer vom Genom des Menschen, dann von Epigenetik und schlieesslich auch vom Metaorganismus: Wir Menschen können garnicht ohne Mikroben existieren, sie steuern viele Vorgänge, sind nicht nur halbpassive Mitbewohner.
        Ein Wesen „ohne“ Mikroben oder den Falschen stirbt sofort.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 18. Januar 2019, 19:35
      • Stimmt, die Mikroben stehen meist unter Generalverdacht. Besser wäre es, ihre unterschiedliche Rolle zwischen lebenswichtig und schädlich deutlich zu machen. Selbst bei den Insekten, die man bislang mit der chemischen Keule bekämpft, wird allmählich klar, dass wir sie brauchen.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 18. Januar 2019, 20:53
      • Sie haben ältere Rechte als wir.
        Und Intelligenz besitzen sie sie auch. Haben das Soziale eher „erfunden“ als wir, die sogenannte Krönung der Schöpfung.
        Zu was der Mensch an Grausamkeiten fähig ist, das geht über jeder Kuhhaut bzw. Insektenhaut. Fast könnte man sagen, daß die überragenden Schöpfungen des Menschen, für die es kein nur ansatzweise denkbares Beispiel gibt, erkauft wurden durch ein furchtbares Nachhinken in anderen Qualitäten.
        Entschuldigung für diese Tiriade!

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        Verfasst von kopfundgestalt | 18. Januar 2019, 21:50
      • Das musste mal gesagt werden!

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 18. Januar 2019, 22:21

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