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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie, Physik und Kultur

Newtons Apfel – Fall 6

Auch Gedanken
fallen manchmal unreif vom Baum.

Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951)

Isaac Newtons (1642 – 1726) Einfall einer Vereinigung von freiem Fall und kreisenden Planeten wird interessanterweise als Ergebnis einer „empirischen“ Begebenheit inszeniert. Dabei sollte für ihn wie schon für Adam der Apfelbaum zum Baum der Erkenntnis werden: Einer in verschiedenen Versionen tradierten Anekdote zufolge, fällt Newton ausgerechnet durch einen fallenden Apfel der Fall der Planeten auf. In ihrem Fall um die Sonne sieht er einen Sonderfall des freien Falls.
Für Hans Blumenberg (1920 – 1996) ist der Apfelfall allerdings ein Rückfall in vorgalileische Zeiten: „Dem seit Menschengedenken fallenden Apfel war nichts anzusehen, was er (Newton; HJS) daran hätte beschreiben können. Die List der Sichtbarmachung der Fallbeschleunigung hatte längst Galilei gefunden. Gegenüber seinen Versuchen des verlangsamten Fallablaufs war der Apfel ein Rückschritt ins Vortheoretische, der nicht einmal Veränderung der Fallhöhen erlaubte“ (Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne 1997). Damit unterschätzt Blumenberg u.E. jedoch die suggestive und metaphorische Bedeutung der Anekdote. Denn möglicherweise sah Newton den fallenden Apfel gerade (perspektivisch) gleich groß neben dem Mond im Hintergrund. Vielleicht verfiel er dadurch auch auf die Frage, warum sich diese Gleichheit nicht auch im Verhalten beider Objekte fortsetzen sollte. Denn für die entscheidende Tat Newtons, die Himmelskörper wie irdische Gegenstände anzusehen, die man gewissermaßen in die Hand nehmen kann, gibt es – wie für die Entdeckung neuer, d.h. nicht durch Ableitungen aus dem Alten zu gewinnender Zusammenhänge allgemein – keine andere rationale Erklärung.
Das Szenario wird manchmal so verstanden, daß es Newton durch den bloßen Anblick des fallenden Apfels wie Schuppen von den Augen, die Idee also gewissermaßen aus heiterm Himmel fiel. Vielleicht verkörpert der Apfel aber auch die Frucht der intensiven Überlegungen, die Newton erst dann in den Schoß fallen sollte, als sie reif war.
Auch die Version der Anekdote, wonach der Apfel Newton auf den Kopf gefallen sei, erscheint insofern plausibel, als durch den Aufprall auf den (ähnlich geformten) Kopf Newtons die ineinander verhakten Gedanken gelöst und seinen ausgefallenen Einfall bewirkt haben könnten. Denn „selbst der gute Kopf will angestoßen sein, um etwas Neues zu sehen“ (Georg Christioph Lichtenberg: Schriften und Briefe 1972).
Darin, daß sowohl der Erde, Mond, Kopf und Apfel für jedermann sichtbar vom platonischen Idealfall einer glatten Kugel abweichen, kommt außerdem die für die neuzeitliche Physik entscheidende Verknüpfung von lebensweltlichem Realismus und himmlischem „Idealismus“ zum Ausdruck.
Läßt man sich schließlich vom Atmosphärischen der Anekdote verführen, so drängt sich die folgende Frage auf: „War nicht der im Garten am Fall des Apfels zur neuen Wissenschaft verführte Newton ein anderer Adam, insofern auch er über die weitere Geschichte der Menschheit entschied?“ Andererseits war die Welt „schon zu einheitlich und einförmig geworden, als daß es bevorzugte Blickrichtungen (wie die zum Himmel, HJS) überhaupt noch gegeben hätte, in denen etwas zu erfahren war, was in jeder anderen Blickrichtung nicht gleichfalls erfahren werden konnte“ (Hans Blumenberg ebd.).

 

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