H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaften 1 (2018), S. 70 – 71
Der Schnee schreit, ächzt, quietscht unter dem Tritte,
wie neues unschmiegsames Leder,
und wunderbare weiße Wellen sind überall
Peter Altenberg (1859 –1919)
Beim Laufen durch Neuschnee zerstört jeder Schritt geräuschvoll das feine, aber feste Eisgefüge in der Schneedecke.
Beim Gehen entstehen je nach Untergrund charakteristische Geräusche. Ob wir über das Pflaster eines Gehwegs spazieren, das Gras einer Wiese oder den Sand am Strand – immer begleitet uns ein anderer Sound. Als ganz besonders eindrucksvoll empfinden es viele Menschen, wenn Schnee unter den Füßen knirscht. Solche Töne bringt eine winterliche Landschaft aber nicht immer hervor. Bei frisch gefallenem Pulverschnee sind die lockeren Flocken noch weitgehend intakt. Er gibt unter jedem Schritt sehr leicht nach und lässt allenfalls ein leises und dumpfes »Pfuff« hören. Man geht wie auf Watte. Auch feuchter Schnee tönt eher unauffällig.
Schnee besteht aus Eiskristallen, und die kommen in der Natur in unterschiedlichen Formen vor – unter anderem als Hagel, als Firn, in Eisschollen oder in Gletschern. All diese Konfigurationen unterscheiden sich vor allem in ihrer Dichte. Frisch gefallener Schnee hat eine Dichte von 100 bis 200 Kilogramm pro Kubikmeter und weist damit eine Porosität von 80 bis 90 Prozent auf. Es besteht also aus wesentlich mehr luftgefülltem Hohlraum als aus fester oder flüssiger Substanz. Diese Durchlässigkeit spielt für die anschließenden strukturellen Veränderungen des Schnees eine wichtige Rolle.
Bei diesen kommt es zu Phasenübergängen zwischen fest, flüssig und gasförmig, oder auch zur Festkörperdiffusion, also dem Transport fester Teilchen. Hinter alldem steckt die Vorliebe der Natur, unter den jeweiligen Temperatur und Feuchtigkeitsbedingungen so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Vereinfacht gesprochen strebt jede Schneeflocke die Kugelgestalt an, um auf diese Weise ihre Grenzfläche zu minimieren. Es laufen Prozesse ab, in denen die Eiskristalle des flockigen Schnees miteinander verschmelzen und regelrecht zusammensintern. Der Begriff Sintern steht für ein Verfahren aus der Metallurgie, aber der Vorgang beim Altern des Schnees ist ganz ähnlich: Kleinere Eispartikel wachsen zu größeren Einheiten zusammen. In vielen Fällen ist das mit einer Rekristallisation verbunden. Dabei verschwinden Versetzungen im Kristallgefüge, die beim Aufeinandertreffen der zufällig angeordneten Schneeflocken entstanden sind.
Das Schicksal frisch gefallenen Schnees in den Polarregionen führt den zeitlichen Ablauf der Sinterung vor Augen. An der Oberfläche ist die Decke zunächst noch sehr porös. Die Dichte nimmt mit der Tiefe zu, bis sich schließlich unter zunehmendem Druck eine massive Eisschicht bildet. Die Korngröße im Firn direkt darüber beträgt oft mehrere Zentimeter. Tiefes, mächtiges Gletschereis erscheint sogar blau, weil hier mit der Zeit fast alle Licht streuenden Luftbläschen herausgepresst wurden.
Für das Phänomen des knirschenden Eises genügt es, eine der ersten Phasen einer solchen Metamorphose zu betrachten. Sobald der Schnee gelandet ist, berühren sich die Flocken noch ziemlich locker. Alsbald sackt der Schnee unter dem eigenen Gewicht ein wenig zusammen. Die einander berührenden Kristalle reorganisieren sich und geben dabei Grenzflächenenergie an die Umgebung ab. Wesentlich unterstützt wird der Vorgang durch die Tatsache, dass eine sehr dünne Schicht zwischen den Eiskristallen und der Luft selbst bei Minusgraden flüssig bleibt (siehe »Glatt daneben«, Spektrum Februar 2014, S. 60 sowie »Anhänglicher Schnee«, Spektrum Februar 2017, S. 58). So bildet sich ein skelettartiges Gefüge, das immer fester und kompakter wird. Je nach Temperatur und Feuchtigkeit ist beim Sinterungsprozess ein Wechsel zwischen Schmelzen und Gefrieren beteiligt, dessen strukturbildende Wirkung wir aus einem analogen Vorgang im Alltag kennen: Wenn man Eiswürfel aus dem Gefrierfach in einen Behälter füllt, verkleben sie zuweilen zu einem zusammenhängenden Gebilde. Hier geschieht im Großen, was sich bei frischem Schnee im Kleinen zuträgt, zunächst im Bereich von einigen hundert Nanometern.
Bei genügend tiefen Temperaturen ist das Gefüge nach einigen Stunden so fest und stark, dass er ein weiteres Zusammensacken des Schnees unter der eigenen Masse zunächst unterbindet (Foto oben rechts). Tritt jedoch ein Mensch auf das filigrane Geäst, so brechen die winzigen Verbindungsstücke aus Eis krachend zusammen. Grob kann man sich das vielleicht mit dem Kauen eines Zwiebacks veranschaulichen. Dabei wird ebenfalls ein relativ harter, aber poröser Verbund zermalmt, was ein deutlich hörbares Geräusch erzeugt. Dieses ergibt sich aus der Summe der Vibrationen der Fragmente. Wenn der gesinterte Schnee unter den
Schuhen zerbricht, fügt sich analog die Sequenz aller Schwingungen zwischen Schneeoberfläche und tragfähig verdichtetem Schnee zu dem einzigartigen Knirschakkord zusammen.
Eine solche Situation liegt natürlich nicht immer vor. Häufiger gleiten die Kristalle in feuchtem Schnee durch Wasser geschmiert aneinander ab oder verbiegen sich elastisch. Das erzeugt ein leiseres und wegen der ausbleibenden Brüche weniger klirrendes Geräusch. Sobald die Temperaturen steigen und Schmelzvorgänge die Metamorphose des Schnees dominieren, verschwindet daher das Knirschen.
Zu einem besonderen akustischen Erlebnis wird das Wandern im knarzenden Schnee auch wegen der typischen Stille der übrigen Winterlandschaft. Dieser eigentümliche Kontrast entsteht, weil das lockere Weiß wie eine nahezu ideale schallisolierende Wand wirkt – die unzähligen Hohlräume brechen die Schallwellen und absorbieren bei jeder Wechselwirkung etwas von deren Energie.
Es wird sogar noch ruhiger, wenn der Schnee ganz im Sinn des weihnachtlichen Gesangstextes leise rieselt. Die herabfallenden bauschigen Flocken bilden dann einen schallschluckenden Vorhang. In diesem Fall muss man allerdings auf das Knirschen verzichten.
PDF: Knirschender Schnee
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