Der Grafeneckart ist der älteste Teil des Würzburger Rathauses (unteres Foto). Er hat einen 55 m hohen Turm, an dessen Südfassade eine Sonnenuhr angebracht ist. Die Zeit wird durch den beweglichen Schatten eines Stabes angezeigt, der durch das Licht der umlaufenden Sonne bestimmt wird. Insofern ist eine Sonnenuhr eine kosmische Uhr.
Sie bedient sich zudem einer „natürlichen“ Technik, da sie keine beweglichen Teile besitzt und für ihren Gang keine Energie benötigt. Die Sonnenuhr ist damit eine frühe Verkörperung der Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit. Und sofern das Ziffernblatt und der Schattenstab auch noch korrosionsfrei sind, kann die Zeit ihr nichts anhaben. Ist eine solche Zeitlosigkeit und die damit verbundene Erhabenheit über die Zeit nicht auch das Mindeste, das man von einem Zeitanzeiger erwarten sollte?
Weil die Sonnenuhr absolut reibungsfrei und damit völlig verschleißfrei arbeitet, gibt sie auch keine störenden Arbeitsgeräusche von sich.
Das Gegenstück der Sonnenuhr thront direkt darüber (mittleres Foto), so als sollte ihre Überlegenheit hinsichtlich der Unabhängigkeit vom Wetter und Tag-Nacht-Rhythmus auch noch visuell zum Ausdruck gebracht werden. Die Sonnenuhr scheint sich mit ihrer Inschrift „Keines Menschen Geist hält den Lauf / Von Sonne, Mond und Sterne auf” zum Ausdruck gebrachten Appell an die Bescheidenheit des Menschen dagegen zu wehren, auch wenn die Worte vielleicht nur an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens erinnern sollten.
Die Turmuhr erlaubt es zudem, die dargestellten Ergebnisse der Uhrwerksmechanik und die der Sonnenuhr zugrunde liegende Himmelsmechanik direkt zu vergleichen. Insbesondere die Frage, wem mehr zu vertrauen ist, dem Lauf der Sonne oder den gebändigten, gezählten und zur Anzeige gebrachten Schwingungen der Turmuhr, ist geeignet, den noch einigermaßen einfach nachvollziehbaren Beginn des Eindringens der naturwissenschaftlichen Technik in den Alltag der Menschen exemplarisch zu erkunden und ein Gefühl dafür zu entwickeln, in welchem Maße wir heute von ihr abhängen.
Die Abweichungen der Zeitanzeige, die hier (zum Zeitpunkt des Fotografierens) etwa 15 bis 20 Minuten betragen, sind zwar für einen Flaneur, der sich diese Gedanken macht tolerierbar, nicht aber für einen im Arbeitsleben stehenden modernen Menschen. Hinter diesem Faktum treten alle anderen Erwägungen in den Hintergrund.
Ein im Vergleich zu dieser imposanten, wenn auch nicht sehr exakt laufenden Sonnenuhr bescheidenes Exemplar findet man in Pilsum. Diese ist allerdings in anderer Hinsicht einzigartig.
Einige literarische Aspekte der Beziehungen zwischen Uhr und Zeit findet man hier.
Sich bei seinem Tagwerk nach dem Lauf der Sonne zu richten, ist quasi naturgegeben. Selbst Tiere tun es. Sich die präzise, alle 24 Stunden anzeigende Uhr aus den Erfindungen der Menschheit wegzudenken … klingt erst mal nach dem Paradies. Aber wäre es das wirklich? Die Sommerzeit allerdings ist wirklich misslich.
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Ich würde sogar sagen, dass die mechanische (heute: elektronische) Messung der Zeit und die zeitstrukturierte Einteilung des Alltags eine wesentliche – vielleicht die wichtigste – Voraussetzung für unserere arbeitsteilige moderne Welt waren und sind. Daher bleibt das Paradies prinzipiell verschlossen und allenfalls als Sehnsuchtsort erhalten.
Die halbjährliche Verschiebung der Zeit um eine Stunde (Sommerzeit) empfinde ich hingegen als willkommene Unterbrechung des immer gleichen Zeitablaufs. Ich freue mich jedesmal darauf, u. A. auch deshalb weil dadurch das Längerwerden der Tage gleich mit der Zugabe einer Stunde auf den Weg gebracht wird.
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Das mit der Sommerzeit ist wirklich individuell verschieden. Ich bin ein Frühmensch, und so kann es mir morgens gar nicht früh genug hell werden. Von mir aus dürfte es also ein Winterzeit geben. Interessant finde ich das, was viele auch beim Jetlag feststellen, nämlich dass die Umstellung beim Zurückstellen der Uhr zu verkraften ist als beim Vorstellen der Uhr. Deutlicher als bei der Sommerzeit merkt man es, wenn man z.B. nach New York fliegt. Auf der Hinreise stört es kaum, ein paar Stunden länger wach bleiben zu müssen; erst nach dem Rückflug beklagen sich die Leute über Jetlag.
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Jetlag finde ich auch unangenehm. Doch bezweifle ich, dass solche Phänomene bereits bei einer Stunde zu bemerken sind. Wie oft bleibt man abends an einem Buch oder Fernsehsendung hängen und merkt es kaum und wie oft wacht man warum auch imme eine Stunde oder so früher auf oder schläft am Wochenende länger. Die einzige unangenehme Erfahrung mit der Zeitumstellung habe ich in der Anfangsphase erlebt, als ich auf der Fahrt zur Urlaubsinsel Texel die letzte Fähre verpasste. Da stellten sich noch nicht die meisten Uhren von selbst um. Die erzwungene Übernachtung auf dem Festland bescherte mir jedoch Erlebnisse, die ich im Nachhinein nicht missen möchte.
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So kann es gehen. Und Phileas Fogg hat dank dieser Merkwürdigkeit seine Wette dann doch noch gewonnen. Allerdings hätte ich nicht wie er um die Erde hetzen wollen, sondern dann auch lieber mal eine Fähre verpasst.
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Die Datumsgrenze ist in der Tat insofern ein ähnliches Phänomen, als auch hier wieder um die Anpassung der vom Menschen gemachten Uhrzeit an die kosmischen Abläufe geht.
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Da nur die gegenwärtige Gegenwart real ist, ist auch die Zeit/Uhr an sich eine menschliche „Erfindung“ um u.a sich zeitlose Geschichten erzählen zu können….
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Es gibt ganz unterschiedliche Zugänge zum Zeitbegriff. Das was man in der Physik mit Irreversibilität beschreibt, erfasst den Aspekt, der uns Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft erfahren lässt. Viele andere Aspekte sind von Menschen getroffene Festlegungen und – was das Zeitempfinden betrifft – Ausdruck des persönlichen Erlebens. Daher würde ich mich nicht trauen, eine alles umfassende Definition der Zeit zu geben. Deine Aussage verlagert m.E. einen Teil des Problems auf den Realitätsbegriff, der ähnlich vielschichtig ist wie die Zeit.
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Zitat: „Ein im Vergleich zu dieser imposanten, wenn auch nicht sehr exakt laufenden Sonnenuhr …‘. Dieser Satz ist für alle Soonenuhrliebhaber sehr befremdlich. Eine Sonnenuhr hat ihre eigene Art von Präzision, die sich sich nicht deckt mit unserer stets gleich langen Dauer der Stunden und Tage der mitteleuropäischen Zeitzone. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass unsere MEZ in etwa der Ortszeit von Ortschaften auf einer Linie zwischen Zagreb und Ostersund entspricht 15° E). Dazu kommen noch die Schwankungen, die sich etwas vereinfacht gesagt aus dem unregelmässigen Lauf der Erde um die Sonne im Verlauf eines Jahres ergeben. Die allermeisten Sonnenuhren (sofern sie nicht anders konstruiert sind) zeigen exakt den Zeitpunkt, an welchem die Sonne genau im Süden steht und den höchsten Punkt auf ihrer Tagesbahn überschreitet (= wahrer Mittag, auf den Sonnenuhren = 12 Uhr). Die Stichworte Ortszeit/wahrer Mittag und Zeitgleichung lassen sich unter Wikipedia nachlesen.
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Vielen Dank für den Kommentar. Die theoretischen Grundlagen der Himmelmechanik sind mir als Physiker und Sonnenuhrliebhaber wohl bewusst. Daher war meine Formulierung auch keine Kritik an der Sonnenuhr, sondern eher eine ironischer Seitenhieb auf den Präzisionswahn unserer Zeit.
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