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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie, Physik im Alltag und Naturphänomene, Physik und Kultur

Möven über und unter der Wasseroberfläche

Möwenflug

Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
Und zugleich im grünen Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.

Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?                               Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898)

Angesichts einer nahezu perfekten Spiegelung von Bäumen in einem spiegelglatten See, sagte eine Bekannte dem Sinne nach: Es sieht so aus, als würden die Spiegelbilder nicht auf der Wasseroberfläche sein, sondern im Wasser. Aber das kann ja in Wirklichkeit nicht sein. Es entspannt sich eine längere Diskussion über Physik, Wahrnehmung, Einbildung und Vorbildung. An diese Situation wurde ich erinnert, als ich jüngst das obige Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer las.
Abgesehen davon, dass es sich meines Erachtens um ein sehr schönes Gedicht mit einem kunstvollen Reimschema handelt, wird in der ersten längeren Strophe mit großer Beobachtungsgabe eine Naturszene geschildert. Darin zeigt sich der Dichter beeindruckt von der klaren Spiegelung der Landschaft und der Möwen, die über die spiegelnde Wasseroberfläche kreisen. Besonders beeindruckend finde ich, wie hier große Poesie mit einer unvoreingenommenen Beobachtung äußerst präzise verbunden wird. Meyer urteilt nicht, indem er die gespiegelten Vögel auf der spiegelnden Wasseroberfläche lokalisiert, sondern sieht die Vögel „Tief im Meer“. Er lässt sich also nicht durch die Überlegung beirren, wonach die Materialität des Wassers ein „Eindringen“ des Spiegelbildes verhindern würde. Da Spiegelbilder virtuell und nicht reell sind, spricht auch rational gesehen nichts dagegen, dass sie nicht auf dem, sondern im Wasser sind – in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen der Optik.
Die Faktizität der Virtualität bezieht der Beobachter in der zweiten kürzeren Strophe auf die eigene Existenz, indem die Frage nach „Schein und Wesen“ gestellt wird. Wenn – wie in der erstem Strophe beschrieben – die virtuelle Welt so präzise der realen Welt gleicht, stellt sich auf den Menschen bezogen die Frage, ob er möglicherweise auch nur ein blutloses Spiegelbild sei.

Diskussionen

9 Gedanken zu “Möven über und unter der Wasseroberfläche

  1. Blutleer nicht, aber er sieht ein Konzept von sich selbst. Dem ist nicht zu entgehen.Was denn sonst sollen wir von uns sehen?
    Ich beziehe mich hier auf „Egotunnel“ von Herrn Metzinger. Er möge „die Kürze“ verzeihen 🙂

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    Verfasst von kopfundgestalt | 23. April 2018, 00:32
    • Wenn ich es recht sehe, graut Meyer vor dem vom materiellen Substrat abgezogenen Reflex seiner selbst. Es ist also nicht die in den Naturwissenschaften betriebene Reduktion des Seelisch-Geistigen auf rein materielle Vorgänge, die ihn umtreibt, sondern eher das Gegenteil einer rein immateriellen Existenz.

      Gefällt 1 Person

      Verfasst von Joachim Schlichting | 23. April 2018, 11:20
  2. dieser Satz: „Alles Reale ist Maja“ kann einen schon umtreiben – wenngleich sie doch auch etwas Tröstliches hat. Denn hinter „Realem“ und „bloßem Schein“ kann sich eine weitere, tiefere Dimension des Wahrnehmens auftun, die beides enthält und umfasst.

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    Verfasst von gkazakou | 23. April 2018, 20:05
    • Das „anfassbare“ Reale sind im Hinduismus und Buddhismus in der Tat nur von relativer Bedeutung: eben nur Schein. Vielleicht ist das ja als tiefere Dimension gedacht, in der alles aufgehoben zu sein scheint. Wenn ich das Gedicht richtig lese, glaube ich allerdings nicht, dass Meyer das im Sinn hatte. Aber so tief wollte ich mit meiner laienhaften Einlassung auch gar nicht gehen.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 23. April 2018, 21:26
    • Dein Satz, liebe Gerda, sagt nicht genau, was Du meinst. Ich kann da nur mutmassen.
      Es gibt eine tiefere Dimension, es wird immer tiefere Dimensionen geben, die wenig mit dem Augenschein gemeinsam haben. Ein Ich gibt es nur durch den anderen,dessen Antworten, seine Gegenwart, sein Da-Sein findet Platz „in meinem Kopf“, formiert das Ich mit. Ohne Umwelt kein Ich. Insofern ist das Ich nicht im Kopf zu finden, zu lokalisieren.
      Nun, jetzt habe ich auch meinen Brei dazu gegeben. Verzeiht!

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      Verfasst von kopfundgestalt | 24. April 2018, 14:37
  3. Weder das Eine noch das Viele, das Eine und zugleich das Viele, das Viele und zugleich das Eine.Unter dem wahren Selbst versteht der Zen Buddhismus das selbst-lose-Selbst.
    Das überschreiten des dualen Denkens und der (dualen) Welt-Wahrnehmung. Du und ich, das bin ich, indem ich nicht ich bin.

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    Verfasst von Malabar | 26. April 2018, 18:51
  4. Finde ich auch. Die Zitate stammen übrigens aus dem Buch von Shizuteru Ueada-Wer und was bin Ich?

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    Verfasst von Malabar | 27. April 2018, 10:33

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