Auch wenn es in dieser unserer (un)vollkommenen Welt keine perfekte Symmetrie gibt, erkennen wir dies nur dadurch, dass wir uns auf die Idealgestalt der Symmetrie beziehen. Die gestörte, gebrochene oder sonstwie verfehlte Symmetrie ist das Reale. Ohne Symmetriebrüche gäbe es weder die Welt noch uns, die wir so großspurig darüber sinnieren. Frank Close (*1945) drückt das folgendermaßen aus: „Es mag seltsam klingen, doch heute, fünf Milliarden Jahre nachdem die erste Fusion in der Sonne stattfand, gibt es uns und andere Lebensformen auf der Erde nur, weil das W (ein Elementarteilchen, HJS) so massiv und das Photon masselos ist. Wieder einmal müssen wir erkennen, dass unsere Existenz ganz wesentlich von einer gebrochenen Symmetrie abhängt. Bei Abkühlen des Universums wurde die Symmetrie durch die unterschiedlichen Massen der Kraftübermittler zerstört.“*
Auch vom ästhetischen Standpunkt aus zieht man meist den (manchmal kaum merklichen) Symmetriebruch vor. Allerdings gilt hier wie dort: „Asymmetrie ist, ihren kunstsprachlichen Valeurs nach, nur in Relation auf Symmetrie zu begreifen“**.
Die vorliegende Fotografie eines Straßenzugs ist so etwas wie eine grobe Visualisierung dieses Sachverhalts, bei der ich mich soweit es ging der Symmetrieachse annäherte. Das führte zusätzlich dazu , dass das an der Glasscheibe reflektierte Licht maximal und die Störung durch Licht von innerhalb des Gebäudes minimal wurde (Fresnelsche Gesetze).
Nur wenn man genau hinschaut, bemerkt man einige Strukturen, die auf Gegenstände hinter der Scheibe verweisen; aber erkennen, worum es sich dabei im Einzelnen handelt, kann man trotzdem nicht. Am meisten fällt noch jene dunkle Linie hinter der Scheibe auf, die keine Entsprechung auf der realen Seite hat.
Da es sich um keinen gewöhnlichen Anblick handelt – wer schmiegt sich schon an eine kalte glatte Scheibe, um in dieser Stellung den Blick auf die gewohnte Welt zu nehmen – hat das Foto etwas Künstl(er)i(s)ches. Denn so etwas bewundert man allenfalls auf Gemälden. Dabei denke ich zum Beispiel an Richard Estes (*1932), der ähnliche Szenen fotorealistisch malte. Obwohl er als Maler die Möglichkeit gehabt hätte, perfekt symmetrische Situationen zu malen, konzentrierte er sich besonders auf die asymmetrischen Aspekte.
Ich hätte dieses Foto bestimmt nicht gemacht, wenn es eine perfekte Symmetrie darstellte, denn im weitesten Sinne des Wortes bedeutet Symmetrie nichts anderes als Wiederholung des Gleichen. Das wäre mir aber zu langweilig gewesen.
*Frank Close. Luzifers Vermächtnis. München, 2002
** Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt 1970
ein Bild zum Grübeln, irgendwie bedrohich-klaustrophobisch. Kein Entrinnen möglich. Die Bilder von R. Estes haben, soweit ich das jetzt sehen konnte (ich kannte ihn nicht) eine ähnliche Wirkung.
Bei der „ungestörten“ Zentralperspektive habe ich ein ganz anderes Gefühl, nämlich das der Weite, der Flucht in die Unendlichkeit. Auch das ist nur in seltenen Fällen angenehm, denn es degradiert das reale Umfeld zur Bedeutungslosigkeit.
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Danke für deine interpretatorischen Bemerkungen. Ich gehe damit weitgehend konform. Insbesondere spürt man fast körperliche, dass die Zentralperspektive, wie sie hier deutlich ins Auge fällt, eine Visualisierung der Unendlichkeit darstellt und damit eine Art Sog erzeugt, der den Blick von den anderen Details abzieht.
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Diese dunkle Line, die keine Entsprechung hat…so etwas ähnliches findet sich gelegentlich bei Edward Hopper. Wenn man manche seiner Interieurs in Augenschein nimmt, dann bemerkt man plötzlich vielleicht Unstimmigkeiten, ja direkt Surreales in der Geometrie der Zimmer, in Linienverläufen. Diese bewusst konstruerten Unstimmigkeiten waren primär an das Unterbewusstsein gerichtet. Sie erzeugen einen Sog oder eine andere unterschwellige Befindlichkeit. Gleichartige Effekte erzielte Hopper auch mit der Wahl seiner Farben.
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Die Assoziation zu Hopper war mir angesichts des Fotos auch schon gekommen. Was allerdings die dunkle Linie betrifft, so muss sie hier von Hopper posthum hineingeschmuggelt worden sein. Wenn ich sie bereits während des Fotografierens bemerkt hätte, hätte ich mich um deren Ursprung gekümmert. Du bestätigst mit deinen Gedanken einmal mehr, dass das Foto an die Malerei erinnert. Wenn man Gerdas Kommentar mit einbezieht, so sind wir offenbar nicht die Einzigen, denen es so geht.
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Gerdas Kommentar hatte ich gelesen – doch erst nach meinem Eintrag!
Sie sollte öfters philosophieren. Bei dir erlaubt sie es sich ungehemmt:-)
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