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Physik im Alltag und Naturphänomene, Rubrik: "Schlichting! "

Wirbel in der Teetasse

Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft 6 (2018), S. 62 – 63

Subtile spiralförmige Strömungen in umgerührtem Tee schichten darin verbliebene Blattstücke zu einem kleinen Häufchen in der Mitte des Tassenbodens auf. 

Ich peitsche diese Vorstellung im Kreise
umher wie ein Bube seinen Kreisel!
Wilhelm Raabe (1831–1910)

Den meisten Teetrinkern dürfte schon einmal aufgefallen sein, dass sich in die Tasse geratene Blattrückstände nach dem Umrühren in der Mitte ansammeln, so als hätte man sie dort fein säuberlich angehäuft. Anfangs unternehmen einige den Versuch, im Zentrum aufzusteigen, doch letztlich bleiben sie alle liegen. Kein Geringerer als Albert Einstein sah in diesen Vorgängen mehr als eine Kuriosität während einer Teepause. Für ihn war das Alltagsphänomen ein Modell für die bis dahin nicht verstandene physikalische Ursache, die zur Bildung von Flussmäandern führt.
Auf den ersten Blick scheint das Verhalten der Teeblätter dem zu widersprechen, was man bei anderen drehenden Dingen beobachtet und oft am eigenen Leib erlebt: Alles drängt nach außen. Das betrifft den Beifahrer, der sich in einer Kurve an die Tür gedrückt fühlt, und wirkt besonders spektakulär, wenn eine senkrecht herumgeschleuderte Flüssigkeit problemlos in ihrem Behälter bleibt (siehe »Katastrophenabwehr beim Coffee to go«, Spektrum April 2014, S. 56).
Man könnte versuchen, solche Phänomene physikalisch in den Griff zu bekommen, indem man die Zentrifugalkraft bemüht, die viele »für ein Wesen halten, eine Art Raumgespenst, das überall bereitsteht, wo sich etwas dreht, um pflichtgemäß einzugreifen«, wie der deutsche Physikdidaktiker Martin Wagenschein es einmal ausgedrückt hat. Doch diese Scheinkraft ist nur in einem mitbewegten beschleunigten System definiert. Betrachtet man die Drehbewegungen von außen, so löst sie sich in Nichts auf: Vom Straßenrand aus gesehen tendiert der Beifahrer des kurvenden Autos dazu, aus Trägheit seinen Bewegungszustand beizubehalten und sich geradlinig gleichförmig weiterzubewegen. Daran hindert ihn lediglich der Sicherheitsgurt des Fahrzeugs, das durch eine zum Zentrum der Kurve gerichtete Kraft von seiner Geradeausfahrt abgelenkt wird.
Auch in der Tasse lässt sich die Wirkung der Trägheit feststellen. Wir bringen den Tee durch Umrühren in Rotation, wobei durch Reibung schließlich auch die Flüssigkeitsbereiche erfasst werden, die nicht den Löffel berühren. Jede der so in Bewegung versetzten Flüssigkeitsportionen würde sich dem Trägheitsprinzip entsprechend geradlinig gleichförmig weiterbewegen, wäre da nicht die Tassenwand im Weg. Dies gilt nicht nur für die Portionen außen am Rand, sondern auch für jene weiter innen, die man sich zunächst vereinfachend auf konzentrischen Bahnen mit gleicher Winkelgeschwindigkeit umlaufend denken kann…

PDF: Wirbel in der Teetasse

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Diskussionen

10 Gedanken zu “Wirbel in der Teetasse

  1. ja sieh mal einer an. Die Zentrifugalkraft ist ein Gespenst. Nur die Trägheit ist wahrhaftig.
    Letzteres stimmt insbesondre in den heißen Sommermonaten 😉

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    Verfasst von gkazakou | 3. Juni 2018, 11:12
    • … wovon wir hier ein Lied singen können, wenn das nicht auch schon zu schweißtreibend wäre. Da ich bei den Veröffentlichungen in Zeitschriften immer nur einen Ausschnitt wiedergeben kann, muss dir natürlich der Rest verborgen bleiben (Ich schicke dir einen Sonderdruck per Email). Die Zuspitzung der Zentrifugalkraft oder auch Fliehkraft als Gespenst soll darauf hinweisen, dass diese Scheinkraft (Trägheitskraft) nur dann korrekt angewandt wird, wenn sich der Beobachter selbst im rotierenden System befindet. Der Beifahrer der sich bei einer scharfen Linkskurve von einer Kraft an die rechte Tür gedrückt fühlt, beurteilt dies so, als würde er selbst in Ruhe sein. Dann kann er mit Recht von Zentrifugalkraft sprechen. Ein Beobachter im festen Bezugssystem (etwa vom Straßenrand aus) sieht die Sache jedoch so, dass der Beifahrer sich geradlinig, gleichförmig weiterbewegen würde, wenn er nicht durch die Tür (oder hoffentlich vorher schon durch den Gurt) daran gehindert würde. Bei den rotierenden Teeblättern von Zentrifugalkraft zu sprechen wäre nur dann gerechtfertigt, wenn man sich gedanklich ins bewegte Teeblatt versetzt dächte – doch wer tut das schon.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 3. Juni 2018, 12:43
  2. Würde Dir gerne ein Video schicken, das ich gestern aufnahm. Denke, das wäre ein schöner Stoff für Dich und deine Rubrik.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 4. Juni 2018, 13:47

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