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Marginalia, Physik und Kultur

Narrative Ziegel

Beim Renovieren eines Hauses aus dem 19. Jahrhundert in einem Warfdorf in Ostfriesland stellten wir mit Verwunderung fest, dass die Mauern kein Fundament hatten. Die Ziegel lagen auf einer relativ dünnen Lehmschicht auf und waren statt mit fest werdendem Mörtel nur mit Lehm verbaut. Man konnte die über 150 Jahre alte Wand per Hand dekonstruieren, fast lautlos, indem man einen Ziegel nach dem anderen einfach aufhob, sie zur Wiederverwendung mit wenigen Handbewegungen vom Lehm befreite und aufstapelte.
Keiner der Ziegel glich dem anderen und trug eine individuelle Handschrift. Dies kann sogar ganz wörtlich genommen werden. Denn an einigen Ziegeln konnte man noch den für alle Zeiten konservierten Handgriff – vier Finger auf der Oberseite und Daumen auf der Unterseite – erkennen, mit dem die noch ungebrannten Ziegeln gehandhabt wurden, bevor sie in den Brennofen kamen und mit ihnen so mancher Abdruck konserviert wurde.
Jeder Ziegel ist demnach während der Fertigstellung mindestens zweimal in die Hand genommen worden. Wenn heute Ziegel als „Handform“ verkauft werden, kann man ziemlich sicher sein, dass sie nicht ein einziges Mal von einer menschlichen Hand berührt wurden.
Bei manchen Ziegeln waren sogar Abdrücke von Tierpfoten zu sehen. Ich stelle mir vor, dass die fertig geformten, aber noch nicht gebrannten, über Nacht zum Trocken aufgestapelten Ziegel von neugierigen Tieren besucht wurden, bevor sie am nächsten Tag gebrannt wurden. Das ist eine plausible Erzählung der Ziegel.  Das Geschehen in der Ziegelei, von der heute noch einige Reste inklusive des Schornsteins stehen, hat sich einigen Ziegeln unmittelbar ablesbar eingeschrieben.
Als ich den Ziegel genauso in die Hand nahm, wie es durch die Eindrücke vorgegeben wurde, und alles wie angegossen passte, beschlich mich ein sonderbares Gefühl. Den gleichen Griff muss vor über 100 Jahren schon einmal Jemand mit etwa der gleichen Handgröße gemacht haben. Allerdings muss der haptische Eindruck ein anderer gewesen sein. Während der damalige Arbeiter einen noch weichen, feuchten Ziegel in Händen hielt und einen tatsächlichen Eindruck hinterließ, hatte ich einen harten, rauen Ziegel in der Hand, der nicht weiter zu beeindrucken war.

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Diskussionen

9 Gedanken zu “Narrative Ziegel

  1. Manche Töpfer hinterlassen auch heute noch solche Spuren. Sie tun dem Becher keinen Abbruch. Wer eine exakte Form möchte, kann sie ja in einem Geschäft kaufen…aber da kann man sicher sein, daß sie keine Hand berührt hat.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 24. Juni 2018, 00:54
  2. Lebende Geschichte und ein so direkter Kontakt zu einem Stück Lebensgeschichte von Menschen, die sich über die Zeit hinweg erzählt. Bis ins 19. Jh. hinein war hier bei uns in der Gegend das Formen von Ziegeln oft eine Arbeit für sogenannte Armenhäusler, Frauen, Alte und Kinder; pro Stück entlohnt, mit wenig Geld und Naturalien. Diese Ziegel waren ein Statussymbol für diejenigen, die sie kaufen und verwenden konnten, während die weniger Reichen weiter ihre Fachwerkhäuser mit Weidengeflecht und Kleie-Lehmputz ausfachten. Alte Gebäude wurden oft aus den Ziegeln anderer, wieder aufgebaut, was bedeutet, dass ein Erbauungsdatum eines Hauses nicht für das Alter der verwendeten Ziegel gelten muss, die könnten schon etliches vorher “erlebt” haben: z.B. wurden alte, handgeformte, von Pflanzenresten durchsetzte, verschieden grobe und sogar schwarze Ziegel an der Wustrower St. Laurentius-Kirche hier in der Nähe nach einer Brandkatastrophe Ende des 17. Jhs. und später mit neueren Ziegeln gemischt wiederverwendet. Beim Besuch der Kirche empfand ich an ihrer Mauer eine ganz ähnliche, dramatische Nähe.

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    Verfasst von puzzleblume | 24. Juni 2018, 08:58
    • Das ist eine schöne Ergänzung zu meiner Geschichte. Da die Menschen in der Krummhörn (Ostfriesland) weitgehend auf Kleiboden leben und unser Haus ganz in der Nähe des früheren Ziegeleigeländes liegt, vemute ich, dass die Ziegel des Hauses aus erster Hand waren, obwohl die Verschiedenheit der Ziegel für die Verwendung unterschielicher Formen spricht.
      Übrigens kenne ich eure Gegend und insbesondere auch die Wustrower Kirche, da ich mit einigen Kommilitonen während des Studiums in Hamburg ein Forsthaus in der Nähe von Gartow gemietet hatten. Wir verbrachten dort jeden freien Tag, obwohl die Anfahrt meist mit Bahn und Bus ganz schön aufwändig war.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 24. Juni 2018, 11:15
      • Im Forsthaus Wirl? Heute wäre es kaum leichter zu erreichen, nur vielfältiger, z.B. auf der Strecke oberhalb der Elbe und eine der kleinen Fähren, ausserdem wäre es noch interessanter dort, denn eines der beiden Wolfsgebiete des Wendlands liegt in der Göhrde, das andere bei Gartow.

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        Verfasst von puzzleblume | 24. Juni 2018, 12:01
      • Nein, das wäre noch schwieriger zu erreichen gewesen. Dieses von Graf Bernstorff gemietete Haus liegt an der Kreuzung der Straße von Prezelle nach Gorleben und von Lüchow nach Gartow. Damals war die Straße noch kaum befahren. Wir lebten ja gewissermaßen in einer Enklave. Wir führen mit der Eisenbahn von Hamburg nach Lüneburg, von dort weiter nach Dannenberg und schließlich mit dem Bus nach Gartow, von wo es dann zu Fuß weiterging oder man von einem Kommilitonen, der bereits mit dem Auto da war abgeholt wurde. Aber das musste dann bereits lange vorher verabredet worden sein, denn es gab weder Email noch Handy. Ein Telefon gab es im Forsthaus nicht, ja nicht einmal Elektrizität. Dafür aber zwei riesige Kachelöfen und einen große Küchenherd. Ich komme schon fast wieder ins Schwärmen.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 24. Juni 2018, 12:22
      • Ich ahne, welches das sein müsste.
        Von solchen Wohn- und Schlaferlebnissen habe ich auch schöne Erinnerungen, denn eine Schulfreundin lebte unter der Woche allein in einem Bauernhaus, das auf ein gelegentliches Ausbauen wartete, aber als wir sie dort immer besuchten, in einer sehr frühen , noch fast unberührten Phase, ohne fliessendem Wasser und Telefon im kaum elektrifizierten Haus, mit Küchenofen und – das Highlight für Besucher – einem sehr alten Kachelofen mit zum Schlafen geeigneter Oberfläche. Meine schönsten Spät-Teenager-Erinnerungen sind das herbstliche gemeinsame Champignonsammeln in nebeligen Wiesen und das anschliessende Braten in der Küche auf dem Methusalem-Herd, mit anschliessender Übernachtung in dem angenehm nach Alter duftenden Haus.
        Dass die Schulfreundin da ständig allein hauste und der in der Grossstadt beschäftigte Vater nur gelegentlich vorbeikam, erschien uns damals grossartig. Eine melancholische Variante von Pippi Langstrumpf, bloss ohne Äffchen, Pferd, Gold und Superkräfte.

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        Verfasst von puzzleblume | 24. Juni 2018, 12:38
      • Eine schöne Geschichte, die es in unseren Tagen wohl kaum mehr gibt. Wir haben damals übrigens Pfifferlinge in Überfluss gesammelt. Einer der Freunde verstand es, daraus die tollsten Gerichte zu bereiten. Als wir ihm dann das Haus für 6 Wochen ganz allein überließen, weil er ungestört seine Examensarbeit schreiben wollte, hatte er die Kellergewölbe des Hauses mit unzähligen Gläsern eingemachter Marmeladen u.ä. bereichert. Dafür hatte er die Gurken-, Marmeladengläser u.ä., die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten, ausgenutzt. Zu seiner Examensarbeit war allerdings wegen dieser Arbeitsbelastung nicht gekommen. Spätestens dann, als wir seine köstlichen Hervorbringungen genossen, brachten wir dafür auch noch Verständnis auf.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 24. Juni 2018, 14:59
      • Das ist auch ganz wundervoll. 🙂

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        Verfasst von puzzleblume | 24. Juni 2018, 15:50

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