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Physik und Kultur, Strukturbildung, Selbstorganisation & Chaos

Wenn die Oberlippe wie ein Schmetterlingsflügel zuckt – Schmetterlinge (4)

Der Flügelschlag eines Schmetterlings gilt in der nichtlinearen Physik als Metapher für die Sensitivität von komplexen Systemen, wonach winzige Ursachen drastische Auswirkungen haben können. Aber man muss nicht unbedingt an physikalische Systeme denken. Der Flügelschlag hat lange bevor die Physik das Problem zum Forschungsgegenstand erhoben hat, in der Menschheitsgeschichte eine große Rolle gespielt. Der Dichter Heinrich von Kleist hat das Phänomen in seiner Erzählung: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden sehr ausdruckstark beschrieben.
Konkret geht es dabei um eine Art Rekonstruktion der Auslösung der französischen Revolution, die Kleist hier in der kaum merklichen, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings zuckenden Oberlippe eines innerlich erregten Menschen sieht: „Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte?“ Er erkennt damit, daß in sensitiven, revolutionären oder wie auch immer zu bezeichnenden instabilen Situationen kleinste Schwankungen das normale Geschehen in eine völlig neue Bahn lenken können. Indem er die Aussage in eine Frage kleidet und eine alternative aber ebenso unscheinbare (Er-) Regung benennt, ist er sich bewusst, daß die „wahre“ Ursache niemals mit Sicherheit benannt werden kann.
Sehr eindrucksvoll versucht er die Dramatik der nach der Auslösung eskalierenden Situation zu erfassen: „Mir fällt jener »Donnerkeil« des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? »Ja«, antwortete Mirabeau, »wir haben des Königs Befehl vernommen« – ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: »ja, mein Herr«, wiederholte er, »wir haben ihn vernommen« – man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. »Doch was berechtigt Sie« – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – »uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.« – Das war es was er brauchte! »Die Nation gibt Befehle und empfängt keine« – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. »Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre« – und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: »so sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.« – Worauf er sich, selbst zufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte – wie der „Kleine Fuchs“ (Foto) auf die rote Blüte.
Jetzt kommt der Versuch einer Präzisierung des Geschehens durch Rückgriff auf eine Metaphorik, die mit Vorstellungen und Begriffen der zur Zeit Kleists für die aktuelle Forschung bedeutungsvollen Elektrizitätslehre. – Wenn man an den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankrott vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von dem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird. Und wie in dem elektrisierten dadurch, nach einer Wechselwirkung, der ihm innewohnende Elektrizitätsgrad wieder verstärkt wird, so ging unseres Redners Mut, bei der Vernichtung seines Gegners, zur verwegensten Begeisterung über“.
Wichtig an diesem Beispiel ist auch, daß das System, die französische Nation, durch diese Auslösung ins Chaos gestürzt wurde. Die Situation blieb eine Zeitlang sensitiv, der Schmetterling trieb flatternd weiter sein ebenso argloses wie unheilvolles Spiel.

Zitate aus: Kleist, Heinrich v.: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser 1961, S.321.

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Diskussionen

7 Gedanken zu “Wenn die Oberlippe wie ein Schmetterlingsflügel zuckt – Schmetterlinge (4)

  1. Mich würde interessieren, wann erstmals der Gedanke aufkam, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Zu Kleists Zeiten wusste man schon darum.
    Es gibt ja auch den Begriff „letzte Ursachen“. Sind diese denn immer fest und sicher? Wohl kaum. Nichtsdestotrotz bemüht man sich in der Geschichtsschreibung im eine „Auslegung“.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 21. August 2018, 00:32
  2. Und da dachte ich, ich kennte den Text! Hab ihn vor sehr sehr vielen Jahren gelesen, vermutlich noch als Schülerin, und war tief beeindruckt. Dann ist wohl das, was ich davon verstanden hatte, ins Dunkel des Nicht-Bewussten abgesunken, von wo aus es mein Denken weiter beeinflusste. Der Bezug zur Elektrizitätslehre war mir vollkommen entfallen. Leider überfordert es mich völlig, eine Verbindung zwischen Elektrizitätslehre und nicht-linearer Physik herzustellen (da ich beide nicht kenne), und dadurch vielleicht Licht in die erörterte Frage zu bringen, wieso eine winzige Schwingung unter entsprechenden „sensitiven“ Umständen einen so großen Effekt haben kann. Ist Kleists Metaphorik nur zeitgemäß, oder gibt es einen wesentlichen Zusammenhang mit dem Phänomen?

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von gkazakou | 1. Februar 2019, 19:15
    • Die Elektrizitätslehre ist hier nicht so entscheidend. Kleist nutzte sie als eine neue Analogiequelle. Er hat sich intensiv mit der damals rasant wachsenden Physik befasst. Obwohl Kleist nicht zu den Romantikern zählt, hatten diese oft wie er eine große Affinität zur Physik. Achim von Arnim publizierte damals – wenn ich mich recht erinnere – in mindestens einem physikalischen Journal.
      Was die Sensitivität betrifft – dieser Begriff ist erst in jüngster Zeit geprägt worden – so beschreibt sie einen Vorgang, in dem bei mehreren Versuchen trotz eines fast gleichen Ausgangszustands beliebig unterschiedliche Ergebnisse herauskommen können. Ein grobes Beispiel ist ein auf der Spitze stehender Bleistift. Er müsste eigentlich stehen bleiben, sobald der Schwerpunkt über der Unterstützungsfläche ist. Da diese aber sehr klein ist, genügt eine stets vorhandene winzige Störung, den Bleistift zu Fall zu bringen. Und obwohl man den Ausgangspunkt sehr genau kennt, ist der Endpunkt des fallenfen Stifts nicht vorhersagbar. Ganz anders ist es, wenn man eine Kugel aus einer bestimmten Position fallen lässt. Man kann ziemlich genau vorhersagen wo sie landet und zwar umso genauer, je genauer man die Startposition kennt. Diese Situation ist also nicht sensitiv, sondern klassisch physikalisch.
      Damals waren die Physiker noch überzeugt davon, dass man alles vorhersagen könnte, wenn man nur die Ausgangssituation und die Dynamik des Systems genau genug kennte. Insofern kann Kleist auf kein Paradigma zur Beschreibung der sensitiven Situation zurückgreifen. Er ist sozusagen ein Pionier auf diesem Gebiet. Er versucht es mit seiner – wie ich meine – eindrucksvollen Beschreibung. Er ist seine Zeit damit weit voraus.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 1. Februar 2019, 21:10

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