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Marginalia, Physik im Alltag und Naturphänomene

Schönheit aus dem Geiste der Korrosion

Als der Dachdecker das für Reparaturzwecke am Dach vorgesehene Walzblei ausrollte, staunte ich nicht schlecht. Der  Vorgang des Ausrollens lief wie die Präsentation einer Serie von Bildern abstrakter Kunst ab (siehe Fotos).
Normalerweise hat Walzblei ein einheitliches, leicht zwischen mattem Silber und Blaugrau changierendes Aussehen.
Der Dachdecker missverstand meine Faszination als Entsetzen über das „verrostete“ Blei, das er hier verwenden wollte. Er beruhigte mich dahingehend, dass er mir versicherte, diese oberflächlichen Korrosionserscheinungen hätten keine Auswirkungen auf die Funktionstüchtigkeit des Bleis und würden auf dem Dach in Kürze wieder veschwinden. Denn da würde sich das Blei sich ohnehin mit einer einheitlichen Oxidationsschicht überziehen, die es vor einer weiteren in die Tiefe gehenden Korrosion schützt. Während der Lagerung sei wohl etwas Feuchtigkeit in die Bleirolle eingedrungen.
Die uneinheitliche Verfärbung des Bleis in Gestalt großflächiger und feingliedriger Muster ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass im Zustand des Aufgerolltseins verschiedene Stellen der Bleioberflächen zufallsbedingt mehr oder weniger stark in Kontakt miteinander geraten. In dieser Situation ist Feuchtigkeit eingedrungen und hat unter Beteiligung des Sauerstoffs der Luft zu dünnen Oxidschichten geführt, die je nach der Intensität des Kontakts und dem Grad der Benetzung unterschiedliche Farben und Muster hervorbringen.
An den fraktalen Rändern der farbigen Bereiche ist zu erkennen, dass sich die chemischen Veränderungen der Oberflächen zwischen den Berührstellen des Bleis vorgearbeitet haben.
Wie auch immer. Die entstandenen Strukturen, die übrigens nach der Verarbeitung des Bleis wie vorhergesagt schnell verschwunden sind, bestechen durch ihre eigentümliche Ästhetik, die innerhalb eines begrenzten Farbspektrum vor allem durch die feingliedrigen, filigrane Muster hervorgebracht wird und auf das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit bei ihrer Entstehung verweisen.
Wir haben es hier wieder mit einem Phänomen zu tun, das an sich Ausdruck des Zerfalls ist. Aber wie bereits an anderen Stellen gezeigt (zum Beispiel hier und hier), geht der Zerfall oft mit einer ästhetisch ansprechenden Strukturbildung einher.
Umgekehrt zeigt sich aber oft auch bei Aufbauprozessen wie etwa bei der Kristallbildung aus Lösungen, dass dabei Schönheit im Spiel sein kann.

 

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Diskussionen

6 Gedanken zu “Schönheit aus dem Geiste der Korrosion

  1. Danke dafür! Ein weites Thema, dass ich jetzt nur kurz begleiten kann und darf.
    Zum einen sind wir geübt, Strukturen so anzusehen, dass eine ästhetische Komponente entsteht. Was zu Zeiten von Wols vielleicht noch nicht allgemeingut war, ist es jetzt geworden.
    Wir sehen Gesichter in zufälligen Strukturen und erkennen gleichzeitig partiell schöne zusammenklänge

    Eine Blüte, die am vertrocknen ist, tut das auf eine Art, die die zu verlierende Schönheit geradezu betont. Sie hebt das schöne konzept hervor.
    Zum dritten ist im verfall ein widerschein des ehemals erhaben schönen durchaus zu rekonstruieren.
    eine ehemals schöne frau, die alt geworden, hat oft noch eine grazie, die gut tut und sozusagen die platte Schönheit auf ein neues level rückt.
    Ich bin gerade sehr im stress, weil ich diese worte nicht ausformulieren darf und kann

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    Verfasst von kopfundgestalt | 9. September 2018, 00:26
    • Vielen Dank, dass du dich trotzdem zu diesen Anmerkungen verleiten ließest. Der Anklang der „naturgemalten“ Muster an Werke von Wols ist in der Tat unverkennbar. Das ästhetische Empfinden ist offenbar in subtiler Weise an natürlich gewachsenen Strukturen gebunden. Das Erstaunen darüber, wenn derartige Strukturen an unvermuteten Stellen und in ungewöhnlichen Kontexten entstehen, mag damit zusammenhängen, dass Schönheit oft in einem in gewisser Weise „erhabenen“ Umfeld verortet wird.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 9. September 2018, 09:28
  2. umgekehrt lässt sich leicht ein experiment nachmachen,
    blei löst sich ziemlich schnell in essigsäure (der sogenannte bleizucker, bleiacetat, ist süß und stark giftig; die lösung nicht einfach weggießen);
    ab einem in die lösung gestellten zinkrest (etwa in form eines stabes) bildet sich dann ein „bleibaum“, ebenso chaotisch-wolkenartig graues elementares blei

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    Verfasst von olfriwi | 9. September 2018, 11:25

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  1. Pingback: Schön gestocktes Holz | Die Welt physikalisch gesehen - 19. April 2021

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