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Physik im Alltag und Naturphänomene

Staubflusen und Wollmäuse – Wesen komplexer Verhakungen (hangups)

Staubflusen treten nicht sofort in Erscheinung, sondern erst, wenn sie eine von der Wahrnehmungs- und Schmutztoleranz der jeweiligen Bewohner abhängige kritische Größe überschritten haben. Sie werden meist als störend bis abstoßend empfunden, obwohl sie selbst durch gegenseitige Anhänglichkeit entstehen und dabei zuerst die physikalische und dann die psychologische Sichtbarkeitsschwelle überschreiten.
Die Ablehnung durch uns Menschen ist vor allem dadurch begründet, dass die Flusen als Verkörperung von Dreck, Unsauberkeit, Ungepflegtheit usw. angesehen werden, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Sie mündet daher auch meistens in eine heute meist mit technologischer Unterstützung durchgeführte Vernichtungsaktion.
Wie kommt es zu diesen – je nach Resilienz der Bewohner – manchmal untertassengroßen Staubteppichen? Sie verdanken sich einem physikalischen Prinzip, das von Freeman J. Dyson* als „hangup“ eingeführt wurde und im Deutschen vielleicht am besten mit Verhakung umschrieben werden kann. Dahinter steckt das ebenso einfache wie in der Wirkung verblüffende Prinzip, dass wenn zwei in Bewegung gesetzte Staubteilchen sich durch Zufall treffen und ineinander verhaken, mit großer Wahrscheinlichkeit verhakt bleiben. (Das erinnert an menschliche Beziehungen, in der ja auch diverse Formen der Verhakungen eine Rolle spielen – obwohl die Zahl der Verhakungspartner dabei meist auf zwei beschränkt bleibt.)
Auf diese Weise entstehen zunächst an verschiedenen Stellen kleine Staub-Fussel-Aggregate, die – in Bewegung gesetzt – sich zu größeren Gebilden vereinigen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass einmal eingefangene Staubteilchen sich durch äußere Einwirkungen wieder aus dem größeren Verband lösen ist ungleich geringer, als dass umgekehrt weitere Teilchen in ihnen hängenbleiben.
Schließlich werden die Flusen immer schwerfälliger, man spricht dann auch schon mal von Wollmäusen, und sie reagieren nicht mehr auf jeden kleinen Windhauch. Ihren vorerst letzten Ruheplatz finden sie dann an windgeschützten Stellen, die oft auch die Stellen eingeschränkter Sichtbarkeit sind und ein Grund für die späte Entdeckung. Und wenn sie dann schließlich doch wahrgenommen werden, kann man sich kaum vorstellen, dass sie von allein gewachsen sind.
Wie bei anderen Verhakungsvorgängen (Entstehung von Sanddünen, Sandrippeln, Planeten- und Sonnensystemen usw. ) manifestiert sich darin ein schon in der Bibel angesprochenes Prinzip: Wer da hat, dem wird gegeben (Matthaeus 25:29), das oft etwas vulgärer so formuliert wird: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“.
Etwas Ähnliches haben wir vor einiger Zeit bei der herbstlichen Ansammlung von Blättern beobachtet. Und manchmal frage ich mich, ob nicht ein ähnlicher Mechanismus bei der Entstehung von Geschriebenem obwaltet. Sammelt sich nicht auch darin Gedachtes, Gesprochenes, das sich täglich vergrößernd zu einem Flusen- bzw. Flausenteppich akkumuliert? Gilt natürlich nicht für diesen Text :-).


*Dyson, F. J.: Energy in the universe. Sci. Am. 225/2, 51(1971)

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Diskussionen

13 Gedanken zu “Staubflusen und Wollmäuse – Wesen komplexer Verhakungen (hangups)

  1. Man könnte sich vorstellen, daß grössere Konglomerate, die zufällig ästhetisch schön sind, sich nicht verstecken, sondern im Gegenteil keck hervortreten. Nur sieht man sie selten, weil alsbald durch weitere Verhakung das feine Bild gestört wird und so das nun erweiterte „Etwas“ doch enttäuscht und beschämt den Hintergrund aufsucht.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 13. Dezember 2018, 01:20
    • Ja, das kann man sich gut vorstellen und kommt dann auch vielleicht auch noch zu der Frage, ob diese ästhetischen Muster auch existieren, wenn man sie nicht sieht? Die Wollmäuse befinden sich also ständig in der Entwicklung. Könnte das nicht auch eine schöne Metapher für andere Vorgänge sein?

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 13. Dezember 2018, 10:07
      • Zur ersten Frage: Ästhetik setzt den Menschen voraus. Gibt es ihn nicht, dann brauchen sich die Wollmäuse nicht bemühen.
        Zur zweiten Frage/Beobachtung: Probiert und gemacht wird ständig. Zielgerichtet ist das insofern, weil Verhakungsbedingungen, Wind und Menschen, die zu 90 Prozent für den (Haus)-Staub sorgen, mitmachen müssen.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 13. Dezember 2018, 12:03
      • Allerdings besteht das „Mitmachen“ nicht in einer zielgerichteten Aktivität, sondern könnte im Prinzip durch einen Zufallsmechanismus ersetzt werden, durch den Staubteilchen eingebracht und durch Luftzug in Bewegung gesetzt wird.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 13. Dezember 2018, 13:05
      • Allerdings! Das wäre ein schönes Panoptikum.
        Ein gelangweilter Beobachter könnte dann höchstens einbringen: Schon wieder Haare von Rosamunde – kennen wir schon! Können nicht auch mal Haare von Dieter eingespielt werden?

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        Verfasst von kopfundgestalt | 13. Dezember 2018, 16:38
  2. Was für sein hübscher Text, den habe ich gerne gelesen. Vor allem, weil es sich eine Wollmaus in meinem Flur untern einem Tisch rund um das Stuhlbein gemütlich gemacht hat. Zeit für die technische Unterstützung, würde ich sagen… Gedanken funktionieren wahrscheinlich nach einem ähnlichen Prinzip, leider nicht nur gute, sondern auch schlechte, z.B. des nachts. Im kreativen Prozess hat das aber viel Gutes!

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    Verfasst von ann christina | 13. Dezember 2018, 08:01
    • Eine gewisse Intelligenz kann man den Wollmäusen gewiss nicht absprechen. Sie siedeln sich vor allem dort an, wo man bei oberflächlichen Reinigen nicht hinkommt. Auch mich reizen die metaphorischen Möglichkeiten der Wollmäuse – deswegen habe ich mich überhaupt auf sie eingelassen, machen sie einem ansonsten doch nur Arbeit – im Halbdämmer zwischen Wachsein und Schlaf beoachtete Gedanken sind ein gutes Beispiel. Fazit: Wollmäuse sind kreativ!

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 13. Dezember 2018, 10:13
  3. In Ostösterreich spricht man von „Lurch“. Faszinierend, die Betrachtung von Gemeinsamkeiten der Verhakungen von Staub und Menschen 🙂

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    Verfasst von Myriade | 13. Dezember 2018, 12:21
    • „Lurch“ ist angesichts der Bewegungenarten vielleicht sogar noch treffender. Jedenfalls liegen beiden Begriffen die Erfahrung der quasi selbstständigen Bewegung zugrunde. Vielen Dank für die Einschätzung.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 13. Dezember 2018, 13:14
      • Noch etwas:
        In Sardinen, in der Nähe der Rezeption, bewegten sich in den Ecken draussen auf einer Plattform manchmal kleine Teile wie von Geisterhand. Den Luftzug unten am Boden nahm man ja nicht wahr, auch weil auch sonst Wind herrschte.
        Das abrupte Hin und Her lies mich an ein Insekt denken – manchmal war es auch eins, etwa ein langestreckter durch und durch schwarzer Käfer. Nein, man musste eigentlich immer nachschauen…

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        Verfasst von kopfundgestalt | 13. Dezember 2018, 16:48
  4. Das habe auch ich gerne gelesen. Selten waren Wollmäuse so unterhaltsam, Liebe Grüße

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    Verfasst von juergenkuester | 13. Dezember 2018, 12:28
  5. Bei Kunstfälschern war das Einbringen von Wollmäusen hinten in die Fassung sozusagen Pflicht. Natürlich nicht beliebige, sondern „glaubhafte“.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 13. Dezember 2018, 16:42

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