Schlichting, H. Joachim. Physik in unserer Zeit 50/1 (2019), S. 45
Das Zusammenwirken von Absorption und Reflexion von Sonnenlicht sowie Wärmeleitung führt unter bestimmten Bedingungen zu regelmäßigen Mustern im Schnee.
Auf dem Handlauf eines Treppengeländers hat sich ein Muster aus periodisch weggeschmolzenem Schnee gebildet. Das ist auch insofern erstaunlich, als die Lufttemperatur mit -1 bis -2 °C eindeutig zu niedrig ist, um den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Zwar bricht die Sonne hin und wieder durch den hochnebelartigen Dunst und fühlt sich angenehm warm an. Doch der blendend weiß erstrahlende Schnee ist ein deutliches Zeichen dafür, dass das Sonnenlicht nicht gleichermaßen vom Schnee absorbiert, sondern hauptsächlich reflektiert wird. Die direkte Sonnenstrahlung trägt daher kaum zur Erwärmung der Schneedecke bei und zeigt auch außer auf dem Geländer keine feuchten Stellen.
Das menschliche Vermögen, Muster zu erkennen, lässt uns aber ziemlich schnell eine visuelle Verbindung zwischen den Stellen, an denen der Schnee geschmolzen ist und den senkrechten Streben des Geländers herstellen. Diese Streben sind schuld an der periodischen Schneeschmelze. Sie haben eine blaue Farbe, absorbieren also das Licht der komplementären Wellenlängen des Sonnenlichts und wandeln es in thermische Energie um. Dieser Thermalisierungseffekt ist offenbar so stark, dass die Streben über 0 °C hinaus erwärmt werden. Und da Eisen ein ziemlich guter Wärmeleiter ist, fließt thermische Energie von den erwärmten zu den kühleren Stellen.
Auf diese Weise gelangt die Wärme zum Handlauf und führt an den Verbindungsstellen zur lokalen Schneeschmelze. Ist erst einmal eine Stelle frei geschmolzen, sodass das blaue Metall auch dort der direkten Sonnenstrahlung ausgesetzt ist, kann sich die Schneeschmelze weiter zu den Seiten hin ausbreiten. Etwa eine Stunde nach der Aufnahme des Fotos war bei ansonsten gleich bleibenden Bedingungen der Handlauf völlig frei von Schnee.
wieder mal eine verblüffende Beobachtung. Ich suchte gestern vergebens nach Erklärungen, warum manche Bäume fast oder ganz schneefrei, andere aber dick überpudert waren… es sind da offenbar sehr komplexe Bedingungen am Wirken: Stellung der Zweige, der Nadeln, die Farbe, wo steht der Baum, ist er geschützt oder ragt er hoch in die Luft… aber selbst bei einigen hochragenden Zypressen waren die kurzen schräg nach unten weisenden Zeige ganz regelmäßig mit Schnee bestückt, was übrigens entzückend aussah.
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Als Physiker kann man froh sein, wenn man idealisierte Situationen vorfindet, in der die physikalischen Prozesse so einfach zu durchschauen sind wie auf dem Geländer. Du hast völlig Recht, wenn du davon ausgehst, dass Ähnliches auch in allgemeineren und komplexeren Kontexten stattfindet. Damit kann man sich zumindest klarmachen, wie du es ja in deinem Beispiel auch tust, warum eine derartige Vielfalt zu beobachten ist, obwohl die physikalischen Bedingungen – Temperatur, Windgeschwindigkeit, Luftfeuchte u.Ä. – doch dieselben sind. Damit wird man sich in den meisten Fällen zufrieden geben müssen, weil die Komplexität im Detail nicht mehr zu durchschauen ist.
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Absolut „schön“, diese Verbindung Farbe und Absorption. Dann klettert die Wärme auch noch hoch, zum Schnee.
Ein famoser Beitrag, danke!
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