In diesen dunklen Zeiten kann ein Silberstreifen am Horizont wahrlich erhellend und aufhellend sein. Das gilt im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne.
Es war Gustav Stresemann (1878 -1929), der 1924 in einer Rede zu den damals noch akuten Reparationsverhandlungen zum 1. Weltkrieg diese eindringliche Metapher prägte. Wörtlich sprach er von einem: „Silberstreifen an dem sonst düsteren Horizont“.[1]
Auf dem Foto sieht man in einer Situation in der der Himmel von dunklen Wolken bedeckt ist eine Wolkenlücke, die den Blick auf eine dünnere von der Sonne aufgehellte Wolkenschicht erlaubt. Die Aufhellung war allerdings nur kurze Zeit zu sehen; kurz nach dem Fotografieren versank wieder alles im trostlosen Dunkel.
so wie halt auch nach Stresemanns Ausspruch sich alles schnell wieder verdüsterte.
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Du sagst es; genau das dachte ich auch, als ich Stresemann als Urheber des Ausspruchs herausfand. Wie Simonsegur in seinem Kommentar nahelegt, hatte Stresemann vielleich Milton gelesen.
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Man versäumt oft solche Momente. Mir ist es im Urlaub passiert, daß sichi n den wenigen Sekunden, die ich brauchte, um meine Kamera zu packen, das Gesehene verschob.
Nicht vergessen werde ich auch einen anderen Moment, in dem ich Reinigungskräfte eines Hotels, die eine Zigarette rauchten, auf den damals besonderen Himmel aufmerksam machte. Sie hatten ihn nicht wahrgenommen.
Man wird so eher, denke ich, zum eigenartigen Menschen, nicht zum aufmerksamen.
Meine Insektenfotos auf den Kanaren, die ich zum großen Teil durch sehr langsame Inspektion einer Oleanderallee gewann, wiesen mich wohl als „Narren“ aus. Vielleicht hätte ich mich, unwissend, als solchen selbst gesehen, wer weiß?
Du hattest unlängst eine Entdeckung präsentiert, die, wenn sie nicht durch Dich gesehen worden wäre, nahe am Nichtexistenten gewesen wäre.
Unsere Begegnungen mit Freunden in fremden Städten, die manchmal so unglaublich zufällig erscheinen, sind vermutlich garnicht so zufällig. Durchaus möglich, daß wir der angetroffenen Person schon einige Male fast begegnet sind, nur durch einen Wimpernschlag voneinander getrennt. Ich traf mal nur eine alte Bekannte, nach vilene Jahren Nichtsehens, nur dadurch in einer anderen Stadt, weil ich vor der Begegnung noch einen Schritt zurück machte, um mich einer Sache zu vergewissern. 15 Sekunden später betrat ich den Hauptplatz der Stadt, als meine Bekannte gerade den Platz querte. Hätte ich also ganz normal GLEICH den Platz betreten, wäre ich ihr nicht begegnet.
Ich denke also: Könnte man die Wege einer Person X aufzeichnen, die man Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte, dann würde man feststellen, daß sich die Wege vermutlich schon einige Male fast gekreuzt hatten.
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Du sprichst mehrere Punkte an. Der erste, dass man sich leicht zum Narren macht, wenn man in einer durch Konventionen stark geprägten Umgebung sich nicht konform verhält. Bei meinen Experimenten mit Sand am belebten Strand (ich hatte bereits einige Beiträge dazu gebracht und weitere werden folgen) ging es mir genauso.
Was die Wahrscheinlichkeit betrifft, Menschen irgendwo in der Welt zu treffen, dazu könnte ich auch einige Erlebnisse beitragen. Das erstaunlichste ist, dass ich einen früheren Klassenkameraden, zu dem ich währen der Schulzeit kaum Kontakt hatte, in den letzten Jahrzehnte fünf mal an den unmöglichsten Stellen der Welt getroffen habe. Die erste Begegnung war in Paris, wo uns je besondere Zufälligkeiten in ein Pissoir geführt hatten, in dem wir nun nebeneinander standen, uns aus dem Augenwinkel erkannten und es nicht glauben konnten. Mit der Wahrscheinlichkeitstheorie kann man all das „erklären“, es bleibt aber ein Rest an Zweifel…
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Interessante Diskussion über Zufall und Wahrscheinlichkeit. Mich beschäftigen bisweilen die philosophischen Aspekte des Themas Kontingenz und des Axioms, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas geschieht oder nicht geschieht, gleich 1 sei. In Bezug auf Geschichte: der schwarze Schwan, zB der unwahrscheinliche Aufstieg eines österreichischen Obdachlosen zum absoluten Herrscher eines demokratisch verfassten Staates.
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Hier kommt man in der Tat sehr schnell in die Probleme der zweiwertigen Logik, die ja auch den Alltagsdiskurs rational argumentierender Menschen bestimmt. Das tatsächliche Eintreten von Ereignissen, die nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit haben, fechten die Logik und die weitgehend darauf beruhende Mathematik nicht an. Hier kommen dann menschliche Einschätzungen, Wertungen u.ä. ins Spiel, die aber seitens der Wissenschaft gewissermaßen als unwissenschaftlich und daher als nicht existent angesehen werden. Die damit verbundenen Probleme der „Vereindeutigung der Welt“ werden in einem kleinen Büchlein, das ich gerade lese: „Die Vereindeutigung der Welt – über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ von Thomas Bauer erörtert. Aber das ist eine weitere „Baustelle“ des homo horribilis bzw. inzwischen des homo suicidales.
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Herzlichen Dank, Joachim, für diese Erweiterung – oder soll ich sagen:Verengung? – des angesprochenen Themas. Der Wissenschaft und Mathematik, sagst du, sei es wurscht, wie Ereignisse zustande kommen, die nach gewöhnlichem Verständnis als „unwahrscheinlich“ gelten. Wenn solche Ereignisse dann doch eintreten – und das tun sie ja – , dann werden sie „wegrationalisiert“, weil wir modernen Menschen es nicht aushalten, dass etwas „unerklärlich“ bleibt. Hitlers Aufstieg (die proletarische Revolution in Russland, die Kaiserkrönung von Napoleon etc pp) wird zurecht-erklärt, die Widersprüche mit früheren Annahmen (dass so etwas gar nicht passieren kann) werden wegrationalisiert, zu den Wirkungen werden Ursachenketten gesucht und gefunden, bis es „passt“. Wenn später ähnliche „Ursachen“ auftauchen (zB ein Börsenkrach) befürchten alle, dass auch eine ähnliche Wirkung zu erwarten ist (Aufstieg eines Führers), und wie es manchmal so ist, kann eine Prophetie auch selbst-erfüllend sein.
Es gibt dann noch die Nicht-Logiker, die keine Ursachenketten konstruieren, sondern direkt auf Vereinfachungen zusteuern: entweder sind es Verschwörungen, die „alles erklären“, oder es ist der göttliche Finger. (Grad las ich, dass eine republikanische Senatorin die Wahl von Trump „Gottes Willen“ nannte: Gott wollte es, also wurde er gewählt. Hätte Gott es nicht gewolllt, wäre er nicht gewählt worden. Ich las auch, dass der liberale Europa-Abgeordnete Verheugen daraufhin erklärte, er sei noch nie ein so überzeugter Atheist gewesen wie gerade jetzt).
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Ich will nicht sagen, dass Wissenschaftler sich nicht für Ursachen unwahrscheinlicher Ereignisse interessieren. Meist sind es sogar mehrere Disziplinen (z.B. Geschichte bei Hitler, Physik bei Tschernobyl), die eine rationale Rekonstruktion anstreben. Das Erstaunen darüber, dass so etwas eintritt, wird aber gewissermaßen stochastisch wegrationalisiert mit dem Argument, dass unwahrscheinlich nicht unmöglich heißt.
Ich bin mit dir der Meinung, dass im Sinne der anerkannten Wissenschaften denkende Menschen mit der Aussage, etwas sei unerklärlich, nichts anfangen können. Denn der wissenschaftliche Mensch ist ein „Ursachenbär“ (Lichtenberg); er geht davon aus, dass alles eine Ursache haben muss und gibt nicht eher Ruhe, bis er sie zu haben vermeint.
Im Sinne der nichtlinearen Physik (populär auch oft als Chaosphysik bezeichnet) ist man heute aber selbst innerhalb der Physik bereit anzuerkennen, dass es „sensitive“ Momente gibt, in denen beliebig kleine zufällige Einwirkungen zu diametral unterschiedlichen Auswirkungen führen können. In solchen Situationen gibt es keine Vorhersagbarkeit, nicht einmal im Prinzip.
Jemand, der dies schon vor langer Zeit erkannt und eindrucksvoll am Beispiel der Auslösung der französischen Revolution beschrieben hat, ist Heinrich von Kleist in seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Ich habe darüber vor einiger Zeit einen kleinen Blogbeitrag gebracht:
https://hjschlichting.wordpress.com/2018/08/21/wenn-die-oberlippe-wie-ein-schmetterlingsfluegel-zuckt/
In solchen Situationen, du sprichst einige an, fühlen sich sowohl vermeintliche Wissenschaftler, Esoteriker, religiöse Fundamentalisten geradezu aufgerufen, ihre unausgegorenen Gedanken zu äußern. Und da auch Wissenschaftler oft zu diametral unterschiedliche Bewertungen kommen, statt der Sensitivität der Situation eingedenk zu sein und sich zurückzuhalten, halten sich viele Menschen für berechtigt, sich den ihren Vorurteilen entsprechenden Positionen anzuschließen.
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Noch einmal und gleich mehrmals Danke für dein ausführliches Kommentieren, das wieder so viele Informationen und Denkanstöße enthält. Ich lese gleich mal deinen Text zu Kleist nach. Dieser Kleist-Text gehört für mich zu den allerwichtigsten, zumal ich ebenso verfahre. Dieser und der über die Marionetten…..
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Ja, das Marionettentheater ist ebenfalls genial.
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Laß uns hoffen, daß dieser Lichterstreif am Horizont einen hellen, guten Tag ankündigt.
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Diese Hoffnung wird zumindest dadurch unterstrichen, dass es hinter dem Dunklen noch etwas Helles gibt.
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Wunderbar! Wieder einmal diese Art von Verknüpfung aus Literatur, Geschichte und Naturwissenschaft, die Du so großartig vermittelst – wie stets meinen Dank. Im Englischen gibt es den Ausdruck „a silver lining on the horizon“, der John Milton zugeschrieben wird (Aus dem Maskenspiel „Comus“ von 1634): „… Was I deceiv’d, or did a sable cloud/
Turn forth her silver lining on the night?“ Finde ich immer sehr spannend wo und wann in welchen Sprachen ähnliche Redewendungen auftauchen. Und dann die Frage, ob Stresemann wohl Milton gelesen hat 🙂
Liebe Grüße!
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Vielen Dank für diese substanzielle Ergänzung zum Ursprung des Ausspruchs. Die Idee, in anderen Sprachen zu recherchieren, ist sehr gut, wie dein Beispiel zeigt. Dass Stresemann wohl nicht der Urheber des Ausspruchs ist, hatte ich auch schon vermutet, aber mit vertretbaren Aufwand zumindest im Internet nichts dazu gefunden. Außerdem passt die „sable cloud“ viel besser zu meinem Foto. Liebe Grüße, Joachim.
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Sehr schön, danke!
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