In letzter Zeit hatte ich mehrere Anfragen zu einem Phänomen, das ich bereits aus dem Physikunterricht meiner eigenen Schulzeit kannte. Dabei geht es darum, dass man beim Blick durch einen möglichst kleinen Spalt zwischen zwei Fingern dunkle Streifen sehen kann. Nähert man beispielsweise Daumen und Zeigefinger einander bis auf einen winzigen Spalt an (Foto) und blickt hindurch, so sieht man dazwischen dunkle Streifen. Dieser Versuch wurde uns Schülern damals und wird zuweilen auch heute noch als Alltagsbeispiel für Lichtbeugung am Spalt vor Augen geführt. Dem ist aber nicht so.
Die dunklen Streifen sind keine Beugungsminima. Zum einen müssten die Abstände zunehmen, wenn der Spalt schmaler wird. Das passiert aber nicht. Außerdem treten die dunklen Streifen unabhängig davon auf, wie groß oder klein die Lichtquelle ist. Um überhaupt Interferenzerscheinungen bei gewöhnlichem Licht wahrnehmen zu können, muss außerdem die Lichtquelle sehr klein sein, damit das Licht genügend kohärent ist.
Die Ursache für die dunklen Streifen ist vielmehr in einem physiologischen Effekt zu sehen, der durch den Aufbau der menschlichen Augenlinse bedingt ist. Diese ist aus vielen Schichten aufgebaut, die einander wie Zwiebelschalen umschließen. Der Brechungsindex dieser Schichten ist für die inneren etwas größer als für die äußeren, sodass mehrere einander überlagernde Bilder verschiedener Größe auftreten (Polyopie)*, deren Ränder als jene dunklen Streifen in Erscheinung treten. Übrigens beruht auch das von manchen Menschen zu beobachtende Phänomen, bei weit geöffneter Pupille die Spitzen des Sichelmonds mehrfach überlagert zu sehen auf Polyopie.
*Christoph von Campenhausen. Die Sinne des Menschen. Stuttgart 1981.
Wieder was gelernt. Den Sichelmond (und nicht nur den) sehe ich tatsächlich mehrfach. Polyoptisch…. Polyopie ist wieder mal Griechisch, eine opi ist eine kleine Öffnung, in dem Fall die Pupille.
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Ja, was wären die westlichen Wissenschaften ohne die Griechen! Nicht nur, was die wissenschaftliche Namensgebung anbelangt. Auch heute noch werden neue Namen oft mir Rückgriff auf das Altgriechische geprägt, das gilt insbesondere in der Medizin.
Was den Sichelmond betrifft, so machte ich vor einigen Jahren dieselbe Erfahrung und dachte kurzfristig an ein Naturphänomen. Unterstützt wurde die Annahme durch eine Fotografie, die ebenfalls mehrere Sicheln zeigte. Aber das erwies sich dann schnell als Verwackelung. Als ich mit dem Stativ fotografierte, war nur ein eine einzige Sichel zu sehen.
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Die Augenlinse ist also aus vielen Schichten aufgebaut. Handelt es sich hier um ein biologisches Prinzip? Insektenflügeln sind ja auch aus Schichten aufgebaut.
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Das vermute ich. Das Prinzip ist – wie du ja auch schon sagst – in der belebten Natur sehr häufig anzutreffen.
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Dann verstehe ich aber nicht, wieso die Kameralinse das Phänomen aufnimmt – die besteht ja wohl nicht aus mehreren „Schichten“? Oder doch? Und wie schön, dass dieses Beispiel in schulischer Vergangenheit fälschlicherweise umschrieben wurde – das gefällt mir sehr 🙂
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Naja, wenn du genau hinschaust, sind da gar keine parallelen Balken zu sehen. Um überhaupt andeuten zu können, was ich meine, habe ich etwas unscharf fotografiert, um wenigstens eine Andeutung von einem Schatten zu bekommen. Ansonsten wäre es natürlich ein Widerspruch. Von diesen klassischen Widersprüchen in der Schulphysik gibt es übrigens viele Beispiele. Dass die Glätte beim Schlittschuhfahren durch Schmelzen unter den Kufen infolge des Drucks zustande kommt, ist eines. Dank dir für dein gründliches Lesen meiner Texte! 🙂
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Faszinierend! Meinerseits meinen Dank für Deine immer wieder überraschenden und berührenden Texte!
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