Am 19. Februar 1473 wurde Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) geboren. Er revolutionierte die Vorstellung der Menschen von der Welt, indem er sich für das heliozentrische Weltbild einsetzte, das bereits Aristarch von Samos (310 – 230 v. Chr.) überzeugender fand als die Vorstellung, dass sich alles um die Erde dreht. Dass sich diese Vorstellung durchsetzte kann als Sieg der reflektierten Anschauung über den unreflektierten Augenschein gefeiert werden. Es spricht einiges dafür, dass der Zeitpunkt für diesen neuerlichen Vorstoß, die Sonne ins Zentrum zu setzen, gut gewählt war. Denn in dieser Zeit etablierte sich das perspektivische Sehen im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn in Kunst und Wissenschaft: Die Erkenntnis, dass man einen bestimmten Standpunkt einnehmen muss, um perspektivisch zu sehen, könnte Kopernikus auf den Gedanken gebracht haben, sich gedanklich auf die Sonne zu versetzen und von dort auf die Erde und die anderen Planeten zu blicken. Dabei wird er die Erde als Planet „gesehen“ haben, der wie alle anderen Planeten auch die Sonne umkreist. Mit den Worten von Hans Blumenberg (1920 – 1996):
Zwei Errungenschaften der Neuzeit erzwingen die Loslösung vom Gewesenen: die Perspektive und der absolute Raum. Ohne ein perspektivisch trainiertes Denken wäre die Reform des Kopernikus weder zu entwerfen noch durchzusetzen gewesen: Die Wirrnisse der Planetenbahnen lösen sich auf, sobald man den bevorzugten Ansichtspunkt ihrer Bewegungen als gerade den zu konstruieren vermag, den man NICHT innehat.
Der feste Standpunkt, d.h. die Variable „Ort“ festzuhalten, wurde implizit ganz allgemein in der neuzeitlichen Physik als Forschungsprinzip angenommen, nämlich durch die damit verbundene Einschränkung von Freiheitsgraden Regelmäßigkeiten sichtbar zu machen und den Gegenstand der Untersuchung in seiner größten Einfachheit erscheinen zu lassen.
Damit ist zwar lebensweltlich gesehen eine gewisse Künstlichkeit verbunden, nämlich jegliche Naturwüchsigkeit, also auch Natürlichkeit zu unterbinden. Denn natürlich ist es beispielsweise, um einen Gegenstand herumzugehen, um ihn von allen Seiten kennenzulernen, also gerade das Gegenteil davon, einen festen Standpunkt einzuhalten. „Ein Standpunkt ist ein Gesichtskreis vom Radius Null“ (David Hilbert (1862 – 1943)).
Dieser heliozentrische Standpunkt bedeutet „mitwissend durch den Raum (zu schleudern), wahnwitzig rotierend auf unserem kleinen Planeten und um die Sonne und um das Milchstraßenzentrum und … wer weiß worum und wohin noch? Aber wir wissen das eben nur, es hat unsere Sprache nicht erreicht und unser Sehen nicht verändert, im Grunde unsere ‚Geschichte‘ nicht berührt. Aber als in Lissabon 1755 dieselbe Erde sich aufbäumte und das Meer Flutwellen über das feste Land warf, da machte die Natur Geschichte. Konnte sie vielleicht nur machen, weil der Mensch sie in seinem metaphysischen Optimismus überschätzt und sich in seinem Weltvertrauen übernommen hatte. Liest man Humboldts Reisebericht aus Südamerika mit den Erdbebenreporten, wird man auch der unphilosophischen Schärfe solcher Erfahrungen gewahr: Den Lebensboden als instabil zu empfinden, zerreißt den Untergrund der Lebenswelt selbst: Das, worauf sich alle Orientierung bezieht, entzieht dem Orientierungsorgan, vor allem dem Gleichgewichtssinn, seine Bezugsfähigkeit*
*Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt 1997).
Ganz toll, finde ich – soviel Inhalt. Doppel p. Der Physiker und Philosoph 🙂
Beides gewinnt.
Entschuldige die etwas „lose“ Rede. 🙂
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Zu Beginn der Neueit waren die Physiker noch Philosophen. Naturphilosophen.
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Ja, das waren sie, sofern die Neuzeit im Altertum beginnt….
Mich beschäftigt das Thema des Standpunkts sehr … wie du ja auch am Beispiel der Sonne, die in einer Pfütze ertrinkt, ersehen kannst.
Blumenberg geht in dem Zitat umgekehrt vor: „Aber wir wissen das eben nur, es hat unsere Sprache nicht erreicht und unser Sehen nicht verändert,“ Dass unsere Körper wahnwitzig mitrotieren … ist natürlich nicht wahr. Sie rotieren überhaupt nicht Für unseren Körper gibt es die feste Erde, deren Festigkeit nur selten durch schwere Erdbeben in Frage gestellt wird. Wir stehen, wenn wir stehen, senkrecht und ruhig auf unseren zwei Beinen, den Kopf leicht über die Erdoberfläche gehoben, bei mir sind es 1,71 m, und um zu rotieren, muss ich schon eine ziemliche körperliche Anstrengung auf mich nehmen, es sei denn, ich setze mich in ein Karusell. Die Sonne geht im Meer (der sonstwo) unter, und zwar je nach Jahreszeit mehr oder weniger im Westen, und gerade heute konnte ich dem Vollmond zuschauen, wie er über die Bergkulisse emporstieg, zwischen den Ästen unserer großen Pinie hindurchschaute und die Landstraße mit seinem weißen Licht übergoss, in dem die Stämme der Oliven schwarz erschienen und bizarre Schattenspiele aufführten.
Das ist mein einzig möglicher Standpunkt, hier, als Mensch, gebunden an die Erde. Natürlich kann ich mich denkend hineinversetzen in andere Standpunkte, aber einnehmen kann ich sie nicht. Meine Wahrnehmung bleibt an meinen Körper gebunden, und kein Denken kann mein Sehen verändern,
Das zumindest ist mein heutiger Standpunkt in dieser Frage…. 😉 Gute Nacht!
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Guten Morgen! Du hast natürlich völlig recht damit, dass ich auf den ersten Blick unter der Voraussetzung, meinen Standpunkt als festen Grund anzunehmen, alles andere Sonne, Mond, Autos auf der Straße etc. als bewegt ansehen muss. Aber wie ist es in folgender Situation, die ich schön öfter durch- und wahrhaft erlebt habe: Ich sitze im Zug und warte auf die Abfahrt. Endlich geht es los, am Zug auf dem Nachbargleis erkenne ich, dass wir uns in Bewegung setzen, bis ein Blick zur anderen Seite auf den Bahnsteig mir anzeigt, dass wir stehen und der Nachbarzug sich in entgegengesetzte Richtung in Bewegung gesetzt hat.
Bei gleichförmigen Bewegungen (keine Beschleunigung) kann man also nur aus dem Kontext erschließen, was sich wirklich (d.h. bzgl. der Erdoberfläche) bewegt. Wenn die Wahrnehmung wirklich (nur) an deinen Körper gebunden wäre, müsstest du – wie immer die Züge sich bewegen – stets sagen: ich bin in Ruhe. Das würde aber zu Problemen führen, wenn man etwa ans Reisen denkt. Nun könnte man zwar sage: Die Erde ist keine Eisenbahn. Aber wenn man allgemeiner denkt, wird diese Unterscheidung zumindest vom Prinzip her problematisch. Denn die Erde, der Mond und andere Himmelskörper werden in der Raumfahrt bereits als „Fahrzeuge“ benutzt, um beispielsweise Raketen den Impuls, die sie aufgrund ihrer Bewegung besitzen mitzugeben und damit an direkter Antriebsenergie (durch Treibstoffe) einzusparen.
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Guten Tag und danke. Ich weiß jetzt nicht, ob wir aneinander vorbei reden? Jedenfalls habe ich nicht sagen wollen, dass wir als Menschen uns nicht bewegen, natürlich tun wir das, ständig, und nicht nur die Autos um uns, sondern wir selbst machen uns auf die Socken….Die vielen Beziehungen, die dabei ständig entstehen insofern, als sich durch jede Bewegung die Verhältnisse zwischen den sich bewegenden Körpern neu ordnen, sind ein schwer zu überschauendes Gebiet. Drei Hunde und vier Menschen, dazu auch noch fünf Katzen und zwei Vögel, die sich an der Straßenecke xy begegnen – dies mathematisch zu beschreiben, dürfte gar nicht so einfach sein. Doch solange wir uns nur mit unseren natürlichen Organen bewegen, behalten wir im Praktischen meist die Übersicht. Anders wird es, wenn wir uns in Vehikel setzen, die sich statt unser bewegen – wie in deinem Beispiel die Eisenbahn. Da kann es dann schon passieren, dass man sich selbst in Bewegung vermeint, obgleich der Zug stillsteht. Oder auch, man meint, die Landschaft bewege sich, wenngleich es nur der Zug ist, der mich in sie hinein und an ihr vorbei trägt. Wenn man sich dann dessen bewusst wird, meint man vielleicht, man bewege sich? Doch nein, das tut man nicht. Man sitzt am Fenster und blickt hinaus, das ist alles, was man tut. …. Genauso der Mensch, der von seiner Bank aus dem Sonnenuntergang zuschaut. Er bewegt sich nicht. Für sein Erleben mag es scheinen, dass es die Sonne (Landschaft) ist, die sich bewegt, für sein Denken, es die Erde (der Zug) …
Ein ganz anderes Thema wiederum ist die Raumfahrt, die uns die Unabhängigkeit vom Planeten Erde vorgaukelt Da bewegen wir bzw die von uns losgeschickten Raketen sich dann in einem Raum, der seit langem von solchen Neuerungen verschont geblieben ist und wo immer noch gilt:
„Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.“.
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Weil die Sonne wie ein riesiger Gong in sich schwingt, was man sogar mit einem akustischen Ton hinterlegen könnte, ist manchmal sogar die Rede davon, dass die Sonne tönt und wieder mal wusste der Geheimrat schon alles vorher. Ganz abgesehen davon, dass er es in seinem Faust so nicht gemeint hat, könnte man davon auch nichts hören, weil das Weltall kein Medium hat, um Töne zu übertragen. Dieses ewige Schweigen hat wiederum Blaise Pascal in Schrecken versetzt: Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.
Das Problem liegt vermutlich in der Differenz zwischen lebensweltlichem und physikalischem „Denken“. Da kommt man dann leicht in Anschauungskonflikte. Denkt man relativistisch (im Rahmen der Relativitätstheorie), so kann sich sogar die Zeit ändern. Sie vergeht umso langsamer je schneller man sich bewegt (Zwillingsparadoxon).
Einig sind wir uns wohl darin, dass es unter Umständen auch in der Lebenswelt Situationen gibt, in denen wir nicht entscheiden können, ob wir und bewegen oder bezüglich eines Punktes auf der Erde in Ruhe sind. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht sagen.
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Das mit dem Zug ist ein schönes, beredtes Beispiel.
Die Wissenschaften wären nie vorangekommen, wenn sie immer nur auf Augenschein beruht hätten.
Die Lehre vom atomaren Aufbau der Materie Atom musste z.b. 1700 Jahre ruhn, bis sie wieder aufgenommen werden konnte. Etwas, was mich sehr ärgerte, als ich erst vor 3, 4 Jahren davon erfuhr (ich beschäftige mich mit Wissenschaften erst seit 6 Jahren).
Ich habe mich auch mal mit dem Verständnis des Sehens befasst. Da gab es auch mal solch durchaus fortschrittliche Ideen wie, daß die Gegenstände kleine Bildchen von sich ins Auge schicken würden. Widersprüche in solchen Erklärungen haben den Weg geebnet hin zu besseren Modellen. Jedes weitere Modell wies Schwächen auf – und so kam man allmählich dahin, die biologische Technik des Sehens sehr deutlich zu verstehen.
In der Kosmologie verhält es sich ja ähnlich – die dunkle Materie, obwohl nicht physisch greifbar, ist quasi belegt, weil sich andere Erklärungen einfach nicht anbieten bzw. abstruser wirken oder mehr Schwächen bieten. Ebenso auch der „Urknall“, die inflationäre Ausdehnung des Universums ect.
In praktisch allen Wissenschaften muß man durch ganz besondere, oft erst zu entwickelnde Methoden tiefer graben und ist da m.E. ungemein erfolgreich. Genau das ist für mich faszinierend, diese ausserordentliche Rafinesse!
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Obwohl die Wissenschaften sich ursprünglich aus dem lebensweltlichen Denken entwickelt haben (woraus sonst), besteht schon lange kein logisches Band mehr zwischen ihnen. Die lebensweltliche Sehweise und die – hier möchte ich mich nicht zu weit hinauslehnen – und die physikalische Sehweise sind inkommensurabel. Darin stimme ich voll mit dir überein. Ob der Weg zur heutigen Physik (Naturwissenschaften) gewissermaßen zwangsläufig war, möchte ich jedoch bezweifeln. Post hoc wird in vielen populärwissenschaftlichen Publikationen so getan, als ob die Alten in irgendeiner Weise naiver waren als wir Heutigen. Sie sahen es anders und auf ihre Weise korrekt. Die Naturwissenschaften sind eben eine Folge von Revolutionen und keine Evolution, wie oft suggeriert wird. Die Differenzen werden meist nachträglich eingeebnet.
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Worauf Du wieder bzgl. der wissenschaftl. Revolutionen Thomas Samuel Kuhn zitierst?!
Die Alten waren selbstverständlich nicht naiv, z.b. die Atomidee wurde ja so um 500-600 v. Chr. entworfen. Nicht umsonst gibt es ja den Spruch „auf den Schultern von Riesen“.
Was mich auch etwas umtreibt, ist die Stellung der Wissenschaften heutzutage. Ich las heute z.b. , daß ein bald neues wissenschaftliches Journal rauskommen wird, in dem die Autorennamen nicht genannt werden. Das was im Einzelnen gefunden wird oder andiskutiert wird, kann bisweilen zu Problemen führen.
In einem „spirituellen“ Blog bin ich vor 2 Jahren rausgeflogen, weil ich (vollkommen harmlose) wissenschaftliche Erkenntnisse anführte. Wissenschaft sei schuld an so vielem und mit ihr zu winken, sei ungut.
Auf der anderen Seite erlebte ich in einem populär-wissenschaftl. Blog schnelle Reaktionen auf mein Verwundern und Staunen über die ungeheure Komplexität der Natur. Das war dann auch wieder nicht gut.
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Die Problematik ist ziemlich komplex und kann daher auch leicht missverstanden werden. Wie du richtig sagst, machen es sich die terribles simplificateurs zu einfach (sic!) wenn sie meinen, man könne die aktuellen Wissenschaften mit einfachen Worten hinreichend verständlich beschreiben. Hier zitiere ich gern Albert Einstein, der einmal gesagt hat: So einfach wie möglich, aber nicht einfacher.
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