Auf einsamen Wanderungen entwickle ich oft ein inniges Verhältnis zu den Bäumen. Sie kommen mir in dem Maße entgegen wie ich ihnen begegne. Kein Wunder, dass mir das eine oder andere auffällt. Mal ist es ein interessanter Wuchs, mal sind es regelmäßige Muster an den Stämmen und wieder ein andermal ziehen sie aufgrund von Anomalien die Aufmerksamkeit auf sich. Einige dieser Anomalien in Form von Verwachsungen wurden bereits früher angesprochen (z.B. hier und hier und hier und hier und hier). Darunter befanden sich erstaunliche Strukturen, die man so kaum erwarten würde. Die im Foto dokumentierte Form einer multiplen Verwachsung ist jedoch so abwegig, dass man sie sich wohl nicht hätte ausdenken können. Es sieht so aus als hätte sich ein Baum zunächst in zwei etwa gleich große Stämme und einem etwas kleineren Ast verzweigt. Sodann wäre aus dem hinteren Stamm ein weiterer hervorgegangen, der sich in einiger Höhe mit dem vorderen Stamm vereinigt hätte. So ganz überzeugend sieht diese Deutung zwar nicht aus, aber die Alternative, dass sich umgekehrt der vordere Stamm verzweigt und nach unten wachsend mit dem hinteren vereinigt hätte, erscheint mir noch unwahrscheinlicher.
Diese merkwürdige Struktur hat zur Folge, dass der gemeinsame Stamm dicker ist als der Hauptstamm unterhalb der Verzweigung. Schaut man sich die beiden vermeintlich verwachsenen Stämme im Vordergrund genauer an, so gewinnt man andererseits den Eindruck, dass die Verwachsung nicht perfekt ist. Eine Narbe zwischen beiden deutet darauf hin, dass sie ihre Saftströme nach wie vor autonom regeln und nicht zugunsten eines einzigen Systems vereinigt hätten, wie es immer mal wieder zu beobachten ist.
Bei diesem – aus forstwirtschaftlicher Sicht – ebenso verkorksten wie – aus naturphänomenaler Sicht – spektakulären Baum handelt es sich um eine Buche. Und Buchen sind bekannt für Verwachsungen (siehe obige Verweise). Aber der vorliegende Fall ist schon eine Nummer für sich.
Ich habe mir gemerkt, wo der Baum ansässig ist bzw. war. Als ich ihn mit einigen Fragen im Hinterkopf erneut besuchte, war er nicht mehr vorhanden. Er ist Forstarbeiten zum Opfer gefallen. Ich befürchte, dass man daraus Kaminholz gemacht und nicht versucht hat, dieses seltene Naturkunstwerk als Ausstellungsstück zu bewahren.
Deine Beschreibung von Empfinden gegenüber Bäumen als ein Gewahrsein von Wesenheiten spricht mich sehr an. Es wäre wirklich schöner, wenn wenigstens die Form eines solch aussergewöhnlich gewachsenen Baumes in einem Kunstwerk weiterbestünde.
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Das hast du sehr schön ausgedrückt. Leider ist das Verständnis für Bäume insbesondere für außergewöhnliche Bäume nur bei wenigen Menschen vorhanden. Für den einen sind sie „Wesen“ für andere Holz (z.B. für den Kamin). Für mich sind sie u. A. mit den Worten Khalil Gibrans „Gedichte, die die Erde an den Himmel schreibt“.
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Das Zitat von Khalil Gibran trifft es wohl gut, wobei ich das „Wesen“ eines Baums mit seinen vielen Teilhabern entgegen der populären Annahme des Menschen, sich als geschlossene Einheit zu betrachten, dem Komplex aus grossem Gebilde mit seinem Nährstoff- und Atemkreislauf mit den für die Gesundheit so wichtigen Mikroarganismen in mehr umfassendem Sinne als nur einer Analogie körperlich vergleichen möchte.
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Aus naturwissenschaftlicher Sicht enthält Gibrans Ausspruch natürlich auch eine gewisse Provokation, indem Probleme, wie du sie hier ansprichst gewissermaßen übersprungen werden. Indem Menschen, wie Bäume und andere Wesen ober- und unterirdisch notwendig mit – wenn man so will – letztlich der ganzen Welt vernetzt sind, kann man schon noch einiges über diese Beziehungen herausfinden. Die Frage ist nur, wo man die (jeweils bis zur nächsten Grenzverschiebung vorläufigen) Grenzen zieht. Das Kriterium zu sagen, alles das, was nötig ist, dass ein Baum leben kann, gehört irgendwie dazu, ist natürlich sehr dehnbar…
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Spannend auch wieder.
Man sagt ja auch, was allgemein bekannt sein dürfte, daß das menschliche Gehirn trotz seiner einzigartigen Leistungen im Grunde zusammengeschustert ist.
Schade in der Tat, daß dieses Baum-Konstrukt einfach beseitigt wurde!
Ich suchte mal einst nach einem Baum, an dem ich als junger Mensch Klimmzüge machte und bei dem später der Aststumpf schon unerreichbar hoch angesiedelt war.
Vor 2 Jahren wollte ich ihn erneut aufsuchen, aber der Baum war definitiv weg! Ich fand das sehr schade – er war mir emotional wichtig, ohne das näher erklären zu wollen.
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Das kann ich gut verstehen. Ich habe auch einen Baum aus meiner Kindheit, den ich im letzten Jahr nach einigen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder gesehen habe, eine prächtige Esche. Es war – ich wage es kaum zu sagen – emotionaler Moment; schon allein deswegen, dass es den Baum noch gab.
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Scheinbar Verlorengegangenes, daß doch noch da ist, greifbar ist … das eigene Kindsein .
Das berührt!
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☺️
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Diesen Baumwuchs finde ich sehr schön, weil etwas außergewöhnlich und kann ihn mir in schönen Sagen oder Märchen gut vorstellen… eigentlich nicht wie ein Alptraum.🙂
Liebe Grüße von Hanne
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Was von Menschen mit einem Sensorium für das Besondere und Abweichende als kreativ und traumhaft schön angesehen wird, kann für die „ernsthaften Leute“ (Der kleine Prinz) wie in diesem Fall Förster und Waldbauern zu einem Alptraum werden, der beseitigt werden muss…
Liebe Grüße, Joachim.
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So gesehen stimme ich dir natürlich zu. ☺️
Liebe Grüße auch an dich
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☺️☺️☺️
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Und für mich stellte sich, wie so oft in anderen Zusammenhängen, die Frage: was ist normal und was ist es nicht? Und wie sieht es mit der Umkehrung der Festlegung von Norm und Anomalie aus? Und überhaupt: was sind Fehler? Und warum faszinieren uns Menschen diese Abweichungen, welcher Art auch immer?
Liebe Grüße
Juergen
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Lieber Jürgen, an das „Normale“ haben wir uns gewöhnt, es gehört zur allseits akzeptierten Ausstattung der Welt und da freut man sich, dass es Abweichungen gibt, die zeigen, dass es nicht so sein muss und dabei auch noch interessant und schön sein kann. Herzlichen Gruß, Joachim.
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Vielleicht versuchte der Baum durch Zusammenwachsen der Stämme sein Gleichgewicht, was Schwerkraft betrifft, zurückzugewinnen.
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Aus menschlicher Sicht klingt das einleuchtend. Aber wie organisiert ein Baum das? Wie nimmt er es wahr und wie bringt er seine Äste dazu so zu wachsen und schließlich zu vereinen.
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Darauf könnte vielleicht Peter Wohlleben antworten?
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Vielleicht. Obwohl die Erforschung der Sensorik von Pflanzen noch ganz am Anfang steht.
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Siamesische Zwillinge?
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Könnte man meinen. Ich frage mich angesichts der zusammenwachsenden Bäume immer wieder, wann beide ihre Saftströme zusammenlegen und wann sie sie beibehalten und nur „aneinanderlegen“. Wo und wie wird das entschieden?
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Das ist eine gute Frage. In einem früheren Eintrag schreibst du, sie hätten sich“bis aufs Blut“ aneinander gerieben. Und an den Wunden sind sie dann wohl zusammengewachsen und eins geworden.
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Das denke ich immer noch. Aber wie wird entschieden, ob sie ihre Saftströme wirklich vereinigen und zu einem Stamm werden und wann teilen sie sich nur die Borke und bleiben ansonsten weitgehend autonom.
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