Während der Besichtigung einer Grotte auf der Kanareninsel Lanzarote entfernte ich mich ein wenig von der geführten Gruppe und blieb erschreckt vor einem tiefen Abgrund stehen. Ich beugte mich vorsichtig über den Rand und war angesichts der Tiefe der vor mir liegenden Schlucht der Meinung, dass man an dieser Stelle unbedingt eine Barriere und einen Hinweis auf die Absturzgefahr hätte anbringen müssen. In dem Moment rief mich auch schon der Touristenführer ärgerlich zurück und kam mir mit dem Rest der Gruppe entgegen. Er nutzte noch einmal die Gelegenheit der ganzen Gruppe einzuschärfen doch zusammenzubleiben, weil man sich ansonsten unnötig in Gefahr begeben würde.
Dann erzählte er einiges über die angebliche „Geschichte“ dieser Schlucht und endete mit der Frage, wie tief sie wohl sei. Einige beugten sich vorsichtig über den Rand und gaben ihre Schätzungen ab. Dann schlug jemand vor, eine Münze oder ein Steinchen in die Schlucht zu werfen, die Sekunden bis zum Aufschlag zu zählen und daraus die Tiefe zu berechnen. Ich vergegenwärtigte mir auch schon die Formel des freien Falls für die Berechnung: Die Fallstrecke ist gleich 5 mal der gezählten Sekunden zum Quadrat. Doch so weit kam es nicht. Denn als die erste Münze in den Abgrund fiel, hörte man nur ein leichtes Platschen und der Abgrund zerbrach in einem Farbengewirr. Denn er bestand aus einer nur drei Zentimeter dicken Wasserschicht, in der sich das bonbonfarben ausgeleuchtete Gewölbe der Grotte spiegelte. Erst durch die Zersplitterung des glatten Wasserspiegels ging auch unsere Illusion zu Bruch.
Man kennt solche Spiegelungen auch aus dem Alltag, wie im unteren Bild zu sehen ist. Aber keiner käme auf die Idee, darin einen auf dem Kopf stehenden Kirchturm in einer tiefen Schlucht zu sehen. Der Kontext macht hier wie so oft den Text: Die sofort zu erkennende Ähnlichkeit mit einem realen Gebilde verrät die Spiegelillusion. Die Gewölbestruktur in der Grotte ist aber aufgrund ihrer Unregelmäßigkeit und Unvertrautheit nicht etwas, das man sofort wiedererkennt, wenn es denn zum zweiten Mal und dann auch noch auf dem Kopf stehend auftritt. In den Wasserspiegel blickend war nicht auf den ersten Blick zu erkennen, dass es sich hier nur um eine umgekehrte Abbildung der über uns befindlichen Grottendecke handelte. Hinterher war man natürlich schlauer und konnte durch einen direkten Vergleich von Original und Abbild die Spiegelung erkennen.
Das Beispiel macht einmal mehr deutlich, dass wir durch Spiegelungen leicht getäuscht werden können, weil diese bei einem guten Spiegel ein täuschend echt wirkendes Abbild des Originals darbieten. Zwar wird von der Wasseroberfläche nur ein Bruchteil des auftreffenden Lichts reflektiert, so dass bei einer Pfütze oder einem See die Spiegelungen in den meisten Fällen durch das wesentlich intensivere Streulicht der Umgebung überstrahlt werden. Aber in bestimmten Fällen, vor allem dann wenn der Boden unter der Wasserschicht dunkel ist und kaum Licht reflektiert und die gespiegelten Gegenstände hell sind, kann das Spiegelbild in Konkurrenz zum Original treten.
Ja, sehr kraftvolle Spiegelung.
Der weiße Fleck hätte verraten können, um was es sich handelt, doch der Schreck lies offenbar längere Zeit keine Korrektur zu.
LikeGefällt 2 Personen
In der Tat, wenn man erst einmal eine bestimmte Sehweise angenommen und emotional stabilisiert hat, müssen schon starke Argumente wie hier in Form einer echten Zerstörung kommen, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Hinter her ist man dann erstaunt, so im wahrsten Worte „hinter das Licht“ geführt worden zu sein.
LikeGefällt 2 Personen
Ich musste bei deinem Artikel auch jetzt an die Sinnestäuschungen denken, die ich in meinem Leben so erfahren hatte.
Mindestens eine war sogar gefährlich.
Optische, akustische, olfaktorische und sogar haptische Fehleinschätzungen können passieren und werden eigentlich selten thematisiert.
LikeGefällt 1 Person
Du hast recht. Abgesehen von den optischen Täuschungen, zu denen ich mehrere Bücher habe, werden die übrigen Täuschungen kaum angesprochen. Vielleicht sind die übrigen Sinneseindrücke eindeutiger, insbesondere die olfaktorischen: Es ist schwierig jemandem eine Jauchegrube als Bad mit Rosenwasser zu verkaufen.
LikeGefällt 1 Person
Zu akustischen Täuschungen:
Ich hörte mal als Kind einen Stock rhythmisch aufschlagen, so als wenn sich jemand Fremdes mit einem Gehstock nähern würde. Ich floh von der Stelle.
Hinterher dachte ich mir, daß dies das pochende Blut in meinem Kopf verursacht hatte.
Olfaktorische Störungen halten sich bei mir nur sehr kurzlebig, aber es gibt sie. Es sind meist Geruchserinnerungen, möglicherweise aus (sehr) früher Kindheit.
LikeGefällt 1 Person
Geruchserinnerungen sind in der Tat sehr resistent und überdauern die Zeiten. Täuschungen kenne ich hier nur in der Weise, dass ein an sich nicht besonders angenehmer Geruch, der in einer angenehmen Situation (vielleicht so ganz nebenbei) wahrgenommen wird, fortan bei Wiederbegegnung positive Gefühle auslösen kann. Das kann sogar so weit gehen, dass ich mich zunächst wundere, warum der Geruch mir positiv erscheint und ich einige Zeit der Gedankenarbeit benötige, um das ursprüngliche postive Ereignis zu erinnern.
LikeGefällt 1 Person
Das Foto von der „angeblichen“ Schlucht sieht wie ein abstraktes Gemälde aus. Ich mag solche Spiegelungen, die uns eine andere Realität vorgaukeln und ich denke dabei gerne an Alice.
LikeGefällt 1 Person
Stimmt, die Farben sind bei der künstlichen Beleuchtung etwas unrealistisch stark geraten, die aber sehr gut zur Situation passen. Was Alice betrifft, so könnte ich mir gut vorstellen, dass du zu den einzelnen Episoden passenden Illustrationen anfertigen könntest. Ich weiß, es gibt noch wichtigere Dinge. Liebe Grüße, Joachim.
LikeGefällt 1 Person
Es gab in der British Library vor 2 Jahren, als wir sie besuchten, eine Alice Ausstellung. Die war sehr interessant, wenn du Interesse hast, hier ist sie im Netz der Netze ein wenig beschrieben: https://www.bl.uk/alice-in-wonderland
Ich werde erstmal zu Xenia Cosmanns Heiligen BimBam weiterarbeiten. Mal schauen, was danach folgt. Liebe Grüße von Susanne
LikeGefällt 1 Person
Ich wollte dich natürlich nicht drängen, sondern nur meinen Eindruck vermitteln, dass ich mir vorstellen könnte, dass deine Art zu zeichnen und zu malen, kongeniale Illustrationen zu den Alice-Texten liefern könnten. Liebe Grüße, Joachim.
LikeLike
Ich habe mich auch nicht gedrängt gefühlt, Joachim 🙂 und danke dir für die Inspiration.
LikeGefällt 1 Person
🙂
LikeGefällt 1 Person
Illusion oder nicht, die Bilder sind klasse. Deine Erklärung dazu natürlich auch.
Liebe Grüße
Christiane
LikeLike
Danke, liebe Christiane, du hast natürlich recht mit deiner Andeutung, dass es in der Wirkung letzlich gleich ist, ob ein Gefühl von einem echten oder vorgetäuschten Phänomen hervorgerufen wird. Liebe Grüße, Joachim.
LikeGefällt 1 Person
Eine Illusion mehr die ins Wasser gefallen ist 😉 Sobald ein Horizont fehlt u.a kann man das auch bei Bergsee-Spiegelungen gut (sehen), wird es für das Gehirn eher schwierig, die Distanz-Tiefen-Verhälnisse richtig ein zu schätzen?
LikeGefällt 1 Person
Das stimmt! Entscheidend ist in jedem Fall, dass der Kontext vertraut ist um die Täuschung sofort zu durchschauen. Denn von der Symmetrieachse aus betrachtet sind ideale Spiegelungen rein optisch vom Original nicht zu unterscheiden.
LikeLike