Beim Aufräumen stieß ich auf ein kleines Stück Bernstein, das ich mir vor Jahren auf der kleinen Nordseeinsel Neuwerk von einem Sammler erstanden habe. Dieser Sammler hatte im Laufe der Jahre eine sehenswerte Ausstellung von großen und kleinen, unbearbeiteten und fein geschliffenen Teilen zusammengetragen. Er war der Lehrer dieser kleinen Insel im Wattenmeer und frönte nebenbei seinem Hobby, Bernstein zu sammeln. Dazu machte er – wenn ich mich recht erinnere – möglichst jeden Tag, wann die Tide es erlaubte, eine Wattwanderung um die Insel. Ich war damals etwas verblüfft darüber, dass auch an der Nordseeküste Bernstein
zu finden ist. Obwohl ich in diesem Wattenmeer viele Male unterwegs war, ist mir Bernstein nie begegnet. Wenn man allerdings sieht, wie ein Stück Bernstein im Schlick aussieht, nämlich meist grau und schlammig, sodass es sich kaum vom Untergrund unterscheidet, ist das auch kein Wunder.
Der Inselbernsteinsammler wusste außerdem (fast) alles über Bernstein. Als erstes erfuhren wir, dass es gar kein Stein im gewohnten Sinne ist. Vielmehr handelt es sich um fossiles Harz von unterschiedlichen Pflanzen, die vor Jahrmillionen unter die Erde gerieten und deren Harz über die Zeiten konserviert wurde.
Der Name Bernstein, früher auch Börnstein genannt (engl. to burn = brennen), erinnert daran, dass der Stein brennbar ist.
Ich werde das mit meinem Schmuckstück aber nicht überprüfen, zumal er ein interessantes Innenleben besitzt. Genau genommen ist auch dieses Leben wie das der Pflanzen, von denen der Harz stammt, lange ausgehaucht. Aber die perfekt konservierte Form einer Fliege ist eindeutig zu erkennen (wenn auch nur schwer zu fotografieren).
Ihr damaliges Unglück bestand darin, dass sie lange bevor es Menschen auf diesem Planeten gab, bei Kontakt mit dem Harz gewisser Pflanzen wie auf einem Fliegenkleber hängen blieb und schließlich von ihm völlig eingeschlossen wurde (siehe Fotos). Wenn man so will war dieses Unglück insofern ihr und auch unser Glück, zumindest als äußere Form fast bis in alle Ewigkeit erhalten geblieben zu sein. Von der Substanz des Tieres lässt sich in der Regel nichts mehr nachweisen. Der unverzerrte Erhaltungszustand der Einschlüsse (Inklusen) spricht übrigens dafür, dass die Aushärtung des Harzes weitgehend bereits an der Pflanze erfolgte.
Aber das ist noch nicht alles. Für die Physik ist der Bernstein gewissermaßen archetypisch. Bereits in der Antike erkannte man, dass ein zum Beispiel mit Wolle geriebener Bernstein kleine Teilchen wie etwa Papierschnitzel anzuziehen vermag. Heute sagt man, Bernstein lässt sich durch Reibung elektrostatisch aufladen. Dabei ist in elektrostatisch bereits das griechische Wort für Bernstein enthalten: Elektron (ἤλεκτρον). In einer gewissen Weise steht somit der Bernstein an der Schwelle einer Geschichte, die über die Elektrizitätslehre bis ins heutige Internetzeitalter führt.
Dieses Insekt hat eine Adelung erfahren – im anderem Fall hätte es nur ein stereotypisches, kurzes Leben gelebt.
„Einen Eindruck“ hinterlassen haben.
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Genau! Und wo du „stereotyp“ erwähnst: Anders als viele Aufzeichnungen aus früheren Zeiten ist sie in diesem Fall wirklich in „Stereo“.
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Da muß sich das Harz ja sanft um das filigrane Geschöpf gelegt haben. Aber vielleicht täuscht ja auch die Härte der Konstruktion des Körpers und die Belastung durch das Harz – wir hatten ja schon öfters das Thema: Klein und groß, Fläche und Volumen und die jeweiligen Bedingungen dazu.
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Wie heißt es doch so schön in Goethes Fischer: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“. Ich denke, dass das Tierchen auch ein stückweit in das frische Harz eingesunken ist.
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Hach, da wollte ich mit Griechischkenntnissen protzen und lese es dann im letzten Abschnitt: „Elektron“ / Bernstein. Brennstein. Gestatten? Ein Abschnitt aus meinem Romanfragment „Schwanenwegen“:
„Inzwischen war Herr Salieri von den Feldzügen zum antiken Bernsteinhandel übergegangen. Mit leicht erhobener Stimme wandte er sich an die Geschwister: „Bis zu Euch hinauf gingen die Handelswege. Die Hauptmasse des Brennsteins kam ja aus dem Ostseegebiet.“
„Brennstein?“, fragte Gise gehorsam.
„Ja, Brennstein, liebe Gise! Wussten Sie nicht, dass Bernstein mit einer schönen Flamme verbrennt und dabei einen feinen Duft verbreitet, vergleichbar dem kostbarsten Weihrauch?“
Gise tastete unwillkürlich nach der Bernsteinkette, die sie auch heute angelegt hatte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie brennbar war.
„In den reichen Bürgerhäusern Roms“, fuhr Herr Salieri fort, „gab man dem reinen Bernsteinlicht den Vorzug vor den üblichen qualmenden und stinkenden Brennstoffen. Die schönsten Stücke gingen freilich schon damals in die Schmuckherstellung.“ Und dann erzählte er lang und breit von Popäa, Neros schöner Gemahlin: Sie habe sich die Haare bernsteinfarben tönen lassen, damit sie zu ihrem Lieblingsschmuck passten, und natürlich hätten ihr bald alle vornehmen Römerinnen nachgeeifert. Außerdem habe man an die Heilkraft des Bernsteins geglaubt. Als Amulett getragen oder zermahlen, mit Honig und Rosenöl versetzt sei er gut gegen Hals- und Brustleiden gewesen.
Die Rede floss Herrn Salieri glatt und wohlklingend über die Lippen, während der schwere Wagen leise surrend nach Westen rollte. Gise hätte sich gern mit Harald besprochen, es gab so vieles zu planen und zu bedenken….. Stattdessen war sie gezwungen, Salieris Vortrag über den Bernstein und die „enorme Nachfrage“ anzuhören, die „in der Antike zu explodierenden Preisen führte“. Was heute das Erdöl sei, das man zu Recht schwarzes Gold nenne, das sei damals das Gold des Brennsteins gewesen. „Das imperiale Rom hat den Barbaren den profitablen Handel abgejagt und ihn durch gut bewachte Straßen gesichert, ganz ähnlich den Amerikanern heute, die den Erdölhandel unter ihre Kontrolle gebracht haben.“ In vielen Namen stoße man noch heute auf ein fernes, kaum noch verstandenes Echo aus der Zeit des brennbaren Goldes, „beredte Zeugen einer versunkenen Zeit, als sich Nord und Süd im Bernsteinhandel verbanden. Die Alpenpässe: Großer und kleiner St. Bernhardt, Brennero, San Bernardino und Bernino, die Alpentäler des Brenno und der Brenta, Städte diesseits und jenseits der Alpen wie Brundisium, Brienz, Breno, Berona, Bressano, Bernina, Brand und Bern“. usw usf.
„Herr Salieri überbrückte ihr ratloses Schweigen mit einer neuen Geschichte: „Die Griechen waren ebenfalls sehr am Bernstein interessiert, den sie wegen seiner elektromagnetischen Eigenschaften Elektron nannten. Alexander beauftragte Pytheas aus Massalia, dem heutigen Marseille, nach den Quellen des Bernsteins zu forschen, und er fand sie tatsächlich am Ende der Welt im Norden, das man Ultima Thule nannte. Wo dieses Thule lag, darüber rätseln die Gelehrten noch heut.“
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Ja, schade. Dein Text hätte viel besser zum Foto gepasst zumal es zusätzliche Informationen enthält. Wenn ich so weiter mache, bekommen wir deinen Roman so nach und nach in Kommentarform ins Netz. Vielen Dank für diese schöne Ergänzung!
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Darauf wird es wohl hinauslaufen, nach dem Motto: lieber peu a peu als gar nicht. Danke für deine positive Resonnanz, Joachim.
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🙂
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Thule ist mir auch ein Begriff. Wie doch die Worte immer wiederkommen 🙂
Schönes Fragment, Gerda 🙂
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