Ich staunte nicht schlecht, als ich mit einem Freund auf einer inzwischen einige Jahre zurückliegenden Wanderung an der Ems bei Telgte auf eine Gruppe fast vollständig eigekleideter bzw. verpackter Bäume stießen (obere Abbildung). Es drängte sich mir sofort der Gedanke auf, dass hier ein Verpackungskünstler am Werk war. Die Bäume samt ihrer Äste waren derart sorgfältig mit einer dünnen Folie überzogen, dass ich meinte, einen natürlichen Ursprung ausschließen zu können. Denn wenn man vor einem solchen Baum steht und das ziemlich reißfeste und elastische Material in die Hand nimmt, wird man eher an Kunststoff als an ein Produkt natürlicher Herkunft erinnert. Und dennoch sind es kleine Tiere, Raupen der Gespinstmotte (Yponomeuta evonymella), die diese „Kunstwerke“ als Gemeinschaftswerk sehr vieler Individuen hervorbringen.
Wenn man sich vor Augen führt, dass nicht nur einzelne Bäume, sondern manchmal ganze Alleen von Bäumen in der silbrig-weiß glänzenden Verpackung erscheinen, fällt es schwer sich vorzustellen, dass diese kleinen Tiere ein solches Mammutwerk zustande bringen können. Aber es ist eben ein Effekt der großen Zahl. Allein die Koordination der Arbeitsgänge die dafür erforderlich sind und die große Materialmenge, die dabei verarbeitet wird, rufen Erstaunen und Verwunderung hervor. Schließlich stellt sich die Frage, warum die Tierchen diesen Aufwand treiben. Die Raupen haben es auf Nahrung abgesehen, die sie in den jungen Trieben und Blättern mancher Bäume finden. Vor allem Traubenkirschen (daher Traubenkirschen-Gespinstmotte) aber auch andere Bäume – in unserem Fall waren es Pappeln und Birken – werden von den Raupen befallen. Damit si
e von Fressfeinden wie Vögeln und der Witterung unbehelligt ihren Hunger stillen können, hüllen sie gleich die Bäume als Ganzes mit ihrer aus einzelnen Spinnfäden gewobenen Folie ein. Dabei gehen sie sehr sorgfältig und gründlich zu Werke, indem sie selbst tote Äste äußerst passgenau mit verpacken.
Bedenkt man welche Mengen an Baumaterial dafür benötigt werden, wird deutlich, wie viel Biomasse verarbeitet werden muss. Denn neben dem eigenen Wachstum müssen die Raupen ja auch das Gespinst durch Verarbeitung der Nahrungsmittel hervorbringen. Es ist daher kaum zu verstehen, dass sie mit ihren Materialien so großzügig umgehen. Sie spinnen im doppelten Wortsinn. Dabei nehmen sie zuweilen nicht nur das Gras zwischen den Bäumen gleich mit und schaffen auf diese Weise mit den baldachinartigen Bedeckungen ein weiteres erstaunliches Kunststück, sondern wenn zufällig für ihre Esszwecke völlig unbrauchbare Gegenstände – wie etwa ein Fahrrad (mittlere Abbildung) – im Wege stehen, so wird auch dies gleich mit eingepackt. Es fällt mir irgendwie schwer, derartige kunstvolle Hervorbringungen als bloßes Epiphänomen der schieren Fresslust der Raupen anzusehen. Ich finde das tierische Werk ähnlich ansprechend wie die Verpackungskunstwerke von Christo und Jeanne Claude.
Epilog: Wenn die Motten die Bäume im Schutze der Abdeckung kahl gefressen haben, begeben sie sich im Frühsommer zum Fuße der Stämme, wo sie sich verpuppen und nach kurzer Zeit als wunderschöne weiße, dezent schwarz gepunktete Falter aufzuerstehen und ein ganz neues Leben zu beginnen (untere Abbildung). Die Falter legen schließlich nach der Paarung ihre Eier an den Knospen ausgewählter Bäume, vorrangig der Traubenkirsche ab, bis im nächsten Frühjahr der Lebenszyklus der Gespinstmotte von neuem beginnt. Im vorliegenden Fall wurden die Bäume längst von den Raupen verlassen und diese scheinen die Fressorgie überstanden zu haben. Denn die Blätter erstrahlten in neuem Grün.
Die Macht der grossen Zahl:-)
Ich kannte das Phänomen noch nicht. Den Raupen wird es jedenfalls helfen, bei ihrem Spinnen nicht zu wissen, wieviel noch zu tun sein wird. Das erleichtert ungemein.
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Du hast inzwischen einr große Einfühlsamkeit für Insekten in den verschiedensten Lebensstadien entwickelt. 🙂
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Irgendein Sensorium wird der Raupe (den Raupen) ja sagen: Jetzt ist genug.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt (und Flächenzufriedenheit) wird (wohl) nicht mehr gesponnen.
Jetzt muß das ja nicht Intelligenz an sich sein, sondern vergleichbar mit so etwas wie Selbstorganisation.
Bestimmt ist so etwas schon untersucht worden 🙂
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Ich denke auch, dass es dazu Untersuchungen gibt. Im Bereich der Biologie bin ich allerdings überfragt.
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Meines Erachtens bedarf die Nomenklatur der Gespinstmotte unbedingt der Ergänzung: Yponomeuta evonymella christonensis. – Oder so ähnlich…
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Vielen Dank für die terminologische Ergänzung.
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Erstaunliches berichtest du wieder, das die Übertragung auf uns Menschen geradezu herausfordert. Denn wenn ein Auge unseren Planeten von außen betrachten würde: würde es nicht ein kollektives Menschenkunstwerk erblicken und sich fragen, für welchen Zweck dies Menschenwesen all diese Straßen, Schornsteine, Gruben, Stadtkonglomerate, Licht-Messen, Felder, Zäune, Grenzen …. über die gesamte Erde gesponnen hat? So viel Energieverschwendung, und ohne die Gefahr der Zerstörung des Wirts zu bedenken, nur um satt zu werden? Und dann zoomt das Auge ein Einzelwesen heran und wundert sich noch mehr, denn dies Menschenwesen sieht hübsch und Vernunft-begabt aus. Es lebt nur wenige Erdentage, aber das kollektiv erzeugte Gespinst bleibt noch lange erhalten….
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Danke, liebe Gerda! Das ist eine sehr schöne Analogie und gleichzeitig – auf uns selbst zurückgespiegelt – ein nachdenkenswerter Aspekt des menschlichen Daseins auf diesem schönen Planeten. Die Bäume hatten überlebt – ich hoffe, dass trotz allem dasselbe für die Erde gelten wird.
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Das hoffe ich auch, Joachim. Und doch wäre es an der Zeit, unser irrationales Konzept der Überlebenssicherung durch Zerstörung des Wirts zu überdenken.
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Das sehe ich auch so.
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Hab ich in dieser Intensität noch nicht gesehen
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Ging mir genauso. Ich hatte zunächst wirklich an eine künstlerische Aktion gedacht.
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Sehr beeindruckend, danke!
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🙂
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