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Marginalia, Physik und Kultur

Schlupfwinkel der Unbegreiflichkeit oder: Wie groß ist ein Punkt?

Gelungene Burschen, diese Art Punkte! Der alte Brenneke, mein Mathematiklehrer, pflegte freilich zu sagen: Wer sich keinen Punkt denken kann, der ist einfach zu faul dazu! Ich hab`s oft versucht seitdem. Aber just dann, wenn ich denke, ich hätt ihn, just dann hab ich gar nichts. Und überhaupt, meine Freunde! Geht`s uns nicht so mit allen Dingen, denen wir gründlich zu Leibe rücken, daß sie grad dann, wenn wir sie mit dem zärtlichsten Scharfsinn erfassen möchten, sich heimtückisch zurückziehn in den Schlupfwinkel der Unbegreiflichkeit, um spurlos zu verschwinden, wie der bezauberte Hase, den der Jäger nie treffen kann? Ihr nickt; ich auch.*
Wilhelm Busch (1832 – 1908) findet sich in guter Gesellschaft. Auch die Mathematiker haben trotz vielfältiger Bemühungen bis in unsere Tage, den Punkt, insbesondere seine „Größe“, noch nicht abschließend erfassen können. Schon Zenon (490 – 430 v. Chr.) nahm sich vor ca. 2500 Jahren des Problems an. In der Folgezeit haben sich u.a. die Mathematiker Henri Lebesgue (1875 – 1941), Guiseppe Vitali (1875 – 1932), Stefan Banach (1892 – 1945), Felix Hausdorff (1868 – 1942) damit beschäftigt. Endgültig gelöst ist das Problem aber immer noch nicht.
Da alle ausgedehnten Objekte aus unendlich vielen Punkten bestehen, die alle eine unendlich kleine Ausdehnung haben, ist es nicht trivial, etwas Ausgedehntes in Einheiten von etwas Unausgedehntem zu erfassen. Obwohl es nicht zu fassen ist, messen wir Längen, Flächen und Volumina in der Praxis ohne Probleme – auch wenn es in der Mathematik keine verlässliche Grundlage dafür gibt.
Sind in dem Foto Punkte dargestellt? Nein, es sind Samenkörner des Klatschmohns. Aber es könnten Punkte sein, jedenfalls als materielle Repräsentanten jener ideellen Objekte. Viel kleiner dürften sie auch nicht sein, um noch wahrgenommen zu werden. Als Größenordnung für Buchstaben in der Computerdarstellung ist ein Punkt, circa 0,376 mm groß und heißt Didot-Punkt. Das ist Pragmatismus pur.


* Wilhelm Busch. Eduards Traum. Zürich 2001.

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Diskussionen

7 Gedanken zu “Schlupfwinkel der Unbegreiflichkeit oder: Wie groß ist ein Punkt?

  1. Irgendwo las ich, daß man mittlerweile Atome mit einer Art Nadelspitze schubsen kann. Diese Spitze muß superfein sein. Was mit dem „Schubsen“ gemeint war, entzieht sich meiner Kenntnis. Zudem: Ab einer gewissen Grösse kann man sicher nicht mehr von Materie reden. Vielleicht noch bei komlexen Molekülen. Aber Atome sind ja eigentlich nichts Materielles, jedenfalls keine Kügelchen.
    Und wieder fällt mir etwas ein aus alten Zeiten: Machte man sich vor Jahrhunderten nicht Gedanken, wieviel Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten?

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    Verfasst von kopfundgestalt | 7. Dezember 2019, 01:10
    • Mit dem Rasterkraftmikroskop kann man anschaulich gesprochen einzelne Atome manipulieren und vermessen. Die Unterscheidung zwischen Materie und Energie ist in dieser Größenordnung kaum noch sinnvoll und würde zu abstrusen Vorstellungen führen, nähme man die mit der Sprache assoziierten Vorstellungen allzu wörtlich.
      Und die den Scholastikern unterstellte Fragestellung nach den Engeln auf der Nadelspitze ist eine gute Vorübung sich an solchen Anschauungsproblemen abzuarbeiten.

      Gefällt 2 Personen

      Verfasst von Joachim Schlichting | 7. Dezember 2019, 10:01
  2. Gelobt sei Wilhelm Busch. Grad gestern – im Zusammenhang mit Ullis letztem Pong – dachte ich über die Linie nach, die es ja ebenfalls nur mathematisch-ideell, nicht aber physikalisch-materiell gibt – oder? .Dabei ist mein Zeichnen Liniengefecht. Ein verzauberter Hase? .

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    Verfasst von gkazakou | 7. Dezember 2019, 10:33
    • Du hast völlig recht. Für die ideale Linie gelten ähnliche Argumente wie für den Punkt, zumal die Linie aus einer Aneinanderreihung von Punkten gedacht werden kann. Zum Glück erhalten deine Linien ein wenig „Fleisch“ in Form von Tinte, weil wir uns ansonsten in Sphären bewegen müssten, deren Zugang den Menschen weitgehend verwehrt ist. Faszinierend bleibt es in diesem Zusammenhang jedoch, dass dein Liniengewirr zu einer zweiten Realität wird, die in mancher (z.B. künstlerischer) Hinsicht der ersten Realität überlegen ist.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 7. Dezember 2019, 11:50
      • danke, Joachim 🙂 Schwierig ist es mir auch zu verstehen, wie eine ideelle, nur in meinem Kopf befindliche Figur aufs Papier projiziert wird – unter Zwischenschaltung von Auge, Hand und Graphit. (Na ja, nicht genau so, aber annähernd). Und wie der Betrachter aus diesem Liniengewirr dann die „Figur“ herausliest und rückübersetzt….

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        Verfasst von gkazakou | 7. Dezember 2019, 12:01
      • Ich denke das ist auch eines der ungelösten Probleme der Philosophie/Neurowissenschaften. Das Erkennen und Realisieren von (sinnvollen) Gestalten ist in der Tat eine Fähigkeit unseres Gehirns und der von ihm gesteuerten ausführenden Organe (z.B. die Hand), die auf dem schmalen Grat zwischen Chaos und Ordnung angesiedelt ist. Das häufige Auftreten von Pareidolien in Form von sinnlosen Gestaltwahrnehmungen ist eine aus Nebenwirkung, die zeigt wie dicht Sinnvolles und Sinnloses beieinander liegen können.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 7. Dezember 2019, 13:23
      • Raumgewebe, Raumstruktur….

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        Verfasst von kopfundgestalt | 7. Dezember 2019, 13:06

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