Bei Sonnenuntergang sehen alle Städte wunderbar aus, doch manche eben mehr als andere. Reliefe werden geschmeidiger, Säulen runder, Kapitelle lockiger, Gesimse energischer, Turmspitzen strenger, Nischen tiefer, Jünger sehen drapierter aus, Engel schwebender. In den Straßen wird es dunkel, doch es ist immer noch Tag für die Fondamenta und jenen gigantischen flüssigen Spiegel, wo Motorboote, Vaporetti, Gondeln, Dingis und Barken wie verstreute alte Schuhe eifrig auf barocken und gotischen Fassaden herumtrampeln und weder deine eigene Spiegelung noch die einer vorüberziehenden Wolke verschonen .“Abbilden“ wispert das Winterlicht, das nach seiner langen Reise durch den Kosmos schlicht an der Ziegelwand eines Hospitals hängen bleibt oder heimkehrt in das Paradies von San Zaccarias Giebel. Und du spürst die Müdigkeit dieses Lichts, das noch etwa eine Stunde lang in den Marmormuscheln von Zaccaria ruht, während die Erde dem Lichtgestirn die andere Wange bietet. Das ist das Winterlicht in seiner reinsten Gestalt. Es bringt weder Wärme noch Energie, die es irgendwo im Universum oder in der nahen Kumuluswolke abgeworfen und hinter sich gelassen hat. Das einzige Bestreben seiner Partikel ist es, einen Gegenstand zu erreichen und ihn, sei er groß oder klein, sichtbar zu machen. Es ist ein privates Licht, das Licht von Giorgione oder Bellini, nicht das Licht von Tiepolo oder Tintoretto. Und die Stadt verweilt darin und genießt seine Berührung, das Streicheln der Unendlichkeit, aus der es kam. Ein Gegenstand ist es schließlich, was die Unendlichkeit zu etwas Privatem macht.*
Diese poetische Beschreibung eines Sonnenuntergangs, wie man ihn in einer bestimmten Stadt erleben kann, nutzt physikalische Begriffe, um den Worten zusätzliches Gewicht zu verleihen und dem aktuellen Sprachgebrauch entsprechend aufzuladen. Da ist vom Universum, von Energie die Rede, die an Kumuluswolken abgegeben wird, von der Erde als Lichtgestirn, von Lichtpartikeln, die die Gegenstände sichtbar machen usw., ohne dass in irgendeiner Weise einer physikalischen Theorie Rechnung getragen wird. Und dennoch hat man das Gefühl, genau nachempfinden zu können, was gemeint ist. Selbst das Streicheln der Unendlichkeit bekommt einen, wenn auch nicht konkreten, so doch unmittelbar einleuchtenden, vertrauenswürdigen Sinn. In die Alltagswelt abgesunkene, ursprünglich in den Wissenschaften wurzelnde Begriffe, übernehmen nicht nur jeder für sich, sondern auch in fachlich klingenden Zusammenhängen eine metaphorische Rolle, deren Aussagekraft im Bereich der Beschreibung von Stimmungen einer denkbaren (?) wissenschaftlichen Beschreibung übertrifft.
* Aus: Joseph Brodsky. Ufer der Verlorenen. Frankfurt 2002, S. 56
Boah, ist das schön! Welche fantastischen Bilder mit den Worten in meine innere Bilderwelt gezaubert werden… so darf ein Tag beginnen!
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Das ist schön ausgedrückt. Mir geht es ähnlich. Joseph Brodsky versteht es, den metaphorischen „Beiklang“ von Worten so einzusetzen, dass man das Gefühl hat, die Situation nicht nur nachvollziehen, sondern ihr gewissermaßen beizuwohnen.
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Genau so ist es. Von Joseph Brodsky will ich mal mehr lesen. Danke.
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🙂
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Auch ich bin bezaubert. Der Text ist voller Bildungs-Requisiten, aber anstatt zu ermüden, wecken sie Erinnerungen und Neugier. Und wenn dann die alte Erde dem Lichtgestirn die andere Wange bietet, legt man sich hin und träumt von Tintoretto und Tiepoli und vom kommenden Tag. danke für diesen Hochgenuss.
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Vielen Dank für deine schönen Worte, mit denen du den Text von Brodsky kommentierst. Als ich das Büchlein las, dachte ich sofort, nach Corona kommt Venedig. Paradoxerweise kommt es in diesen touristenfreien Zeiten den Erlebnissen Brodskys, der Venedig stets im Winter besuchte, ziemlich nahe.
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„Giorgione“ klingt für mich traumhaft, hat einen besonderen Klang, also muß er ein großer Maler gewesen sein.
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War er in der Tat, auch ohne Klang. Ich habe einige Bilder in Florenz und Venedig von ihm gesehen.
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Ich war früher auch in klassischer Kunst bewandert, Greco, Velasquez, Giotto, doch ist das alles eine Weile her. 😀
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Geht mir ähnlich: Weil ständig Neues hinzu kommt, gerät das Alte dann schon mal in Vergessenheit…
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