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Physik im Alltag und Naturphänomene, Rubrik: "Schlichting! "

Wie Tau Pflanzen tränkt

H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 5 (2020), S. 60

Die Tropfen Tau schon rinnen,
Auf uns und über uns.
Achim von Arnim (1781 – 1831)

Einige Pflanzen schöpfen lebenswichtige Feuchtigkeit direkt aus der Luft, indem Wasserdampf an ihren spezialisierten Blättern kondensiert. Winzige Rillen auf deren Oberfläche lassen die wachsenden Wassertropfen verschmelzen und zu Boden fließen.

Bei einem Regenschauer suchen wir Schutz unter Bäumen, denn das Blätterdach hält den Boden trocken. Gelegentlich allerdings verhält es sich gerade umgekehrt, vor allem am Morgen – dann ist es nur rund um den Stamm nass. Dieses sonderbare Phänomen ist sogar von großer ökologischer Bedeutung. In niederschlagsarmen Gebieten der Erde trägt es maßgeblich zur Wasserversorgung mancher Pflanzen bei.
Bei Nebel kommt man den Ursachen schnell auf die Spur. Ein Teil der durchziehenden Schwaden bleibt an den Blättern der Bäume hängen. Die winzigen Tropfen vereinigen sich mit nachfolgenden und fallen schließlich auf Grund der eigenen Schwere ab.
Doch manchmal findet man frühmorgens selbst nach einer klaren Nacht ohne Anzeichen von Nebel trotzdem feuchte Stellen unter manchen Pflanzen. Dann verdankt sich die Wassergewinnung aus dem vermeintlichen Nichts einem anderen Effekt: Auf den Blättern der Bäume bildet sich Tau. Wenn es nachts kälter wird, nimmt die maximal mögliche Wasserdampfkonzentration ab. Sie sinkt dabei oft unter die tatsächlich vorhandene Feuchte – der so genannte Taupunkt wird unterschritten.
Die Blätter der Pflanzen kühlen sich schnell ab, denn sie sind von geringer Masse und haben daher eine geringe Wärmekapazität. Als Folge ihrer eigentlichen Funktion, tagsüber möglichst viel Sonnenlicht einzufangen, sind sie nachts ebenso optimal zum kalten Weltall ausgerichtet – und strahlen diesem Energie durch Wärme zu.
Damit sich Wasserdampf absetzen kann, sind zusätzlich zur Unterschreitung des Taupunkts Kondensationskeime nötig. Wegen winziger Oberflächenstrukturen und Verunreinigungen gibt es davon reichlich. Sobald an den Stellen Miniaturtröpfchen entstanden sind, wachsen diese zügig, denn sie sind ihrerseits ideale Orte für weitere Kondensation.
Schließlich neigen sich die Blätter. Meist sind sie ohnehin nicht waagerecht ausgerichtet, und selbst wenn, verbiegt sie die zunehmende Last. Die Schwerkraft lässt die Tropfen herabgleiten und zu Boden fallen. Das geschieht aber erst bei einer kritischen Größe.
Diese hängt einerseits von der Benetzbarkeit der Blätter ab, also der Adhäsionskraft, mit der Wasser daran haftet. Der Wert dafür lässt sich mit Hilfe des so genannten Kontaktwinkels bestimmen. Das ist die Neigung zwischen dem Rand der gekrümmten Oberseite eines Tropfens und der Blattoberfläche (siehe Illustration). Bei einem flachen Winkel von 0 bis 90 Grad ist der Untergrund hydrophil (wasserliebend), bei 90 bis 180 Grad ist er hydrophob (wasserabweisend). Im letzteren Fall können sich bereits relativ kleine Tropfen ablösen. Das ist der berühmte Lotoseffekt, der sich hier zu Lande beispielsweise auch bei Kapuzinerkresse oder bei Kohlrabi beobachten lässt (siehe Foto).
Andererseits ist die Voraussetzung für das Herunterfallen eine ausreichende Neigung der Blätter. Denn mit ihr wächst die Komponente der Schwerkraft, die für das Hinabkullern entscheidend ist. Da die Belastung durch das sich sammelnde Wasser das Blatt krümmt, kommt es zu einer Art Rückkopplung: Je mehr Tropfen entstehen und je größer sie werden, desto eher lösen sie sich ab.
Die Vorgänge kommen morgens zum Erliegen, wenn mit zunehmender Umgebungstemperatur die maximal mögliche Feuchte wieder zunimmt. Dann erhöht sich der Taupunkt, und die Neigung zur Kondensation nimmt ab. Schließlich überwiegt die Verdunstungsrate, so dass die letzten Wasserrückstände wieder verschwinden. Um bis dahin möglichst viel Feuchtigkeit zu den Wurzeln zu leiten, sollten die Tropfen rasch zu Boden gehen und Platz für neue machen. Falls die Pflanze auf diese Form der Versorgung angewiesen ist, sollten sie also möglichst schnell das kritische Volumen zum Abgleiten erreichen.
Zu Beginn wachsen einmal entstandene Tropfen jeder für sich. Zwei kleine verschmelzen erst dann zu einem großen, wenn sie sich zufällig berühren. Der Menge an herab rieselndem Wasser würde demnach zunehmen, wenn solche Vereinigungen öfter und zielgerichteter vorkämen. Die kanarische Kiefer etwa hat dafür besonders lange und schmale Nadeln entwickelt – eine fast eindimensionale Struktur. Die Tropfen kommen daher wesentlich rascher mit Nachbarn in Kontakt als bei einem ungerichteten Wachstum in der Fläche.
Auf den sehr biegsamen Nadeln geraten die Tropfen bald ins Gleiten und reißen auf dem Weg herab kleinere Exemplare mit. Und zwar nicht nur einige weitere, zufällig auf ihrer Bahn liegende, wie es auf einem flächenhaften Blatt der Fall wäre, sondern gleich alle, die sich unterhalb von ihnen befinden. Auch andere Pflanzen bieten eine solche anisotrope Topografie, etwa der Bambus. Dieser verfügt über in Längsrichtung geordnete Blattadern. Sie begünstigen schmale, elliptisch geformte Wassertröpfchen und führen sie gezielt hinab.
Die Idee, durch eine derartige Strukturierung Flüssigkeit effektiver aus Dampf zu produzieren, fasziniert Wissenschaftler schon länger. Sie wollen mit maßgeschneiderten Oberflächen unter anderem in Wüsten Trinkwasser gewinnen. 2019 hat eine französische Forschergruppe von einer Möglichkeit berichtet, auch kleinere Tropfen in Bewegung zu versetzen und ablaufen zu lassen, die normalerweise wieder verdunsten würden.
Das Team um Pierre-Brice Bintein von der Université Paris Diderot hat dazu mikroskopisch kleine Rillen auf Materialien aufgebracht. Daraufhin floss kondensiertes Wasser wesentlich schneller ab als auf glatten Flächen. Die kleineren Tropfen verschmelzen eher zu einer kritischen Größe, und auf dem Substrat verbleiben weniger Rückstände. Wenn es Ingenieuren gelingt, solche Strukturen großflächig und günstig herzustellen, ließe sich nicht nur mehr Nebel und Wasserdampr in Wüsten ernten, sondern außerdem die Entwässerung in anderen Systemen verbessern, bei denen die Schwerkraft eine Rolle spielt, von der Destillation bis zum Wäschetrockner.

Quelle
Bintein, P.-B. et al.: Grooves accellerate dew shedding. Physical Review Letters 122, 2019

PDF: Wie Tau Pflanzen tränkt

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Diskussionen

17 Gedanken zu “Wie Tau Pflanzen tränkt

  1. Ich habe im Bad eine Pflanze stehe, die von der Feuchtigkeit der Badezimmerluft lebt, leider weiß ich nicht den Namen, sie kommt aus China.
    Sie wächst sehr langsam und sieht dabei vertrocknet aus.

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    Verfasst von aquasdemarco | 3. Mai 2020, 08:01
  2. Ganz tolle Bilder und sehr interessanter Bericht dazu!
    Liebe Grüße von Hanne

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    Verfasst von hanneweb | 3. Mai 2020, 09:38
  3. Wenn ich von „mikroskopisch kleinen Rillen auf Materialien“ lese, dann denke ich an die Eigenschaft des Wassers, Blätter zu reinigen
    https://hjschlichting.wordpress.com/2007/02/06/tropfen-saubern-blatter/

    Diese Rillen müssen ja auch von mikroskopisch kleinen Teilchen gereinigt werden.

    Schöner Artikel!

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von kopfundgestalt | 3. Mai 2020, 12:02
  4. Sehr schön und informativ wieder. eine Frage habe ich: Wenn Wasser durch technische Einrichtungen großflächig am Verdunsten gehindert wird (Nebel ernten ist übrigens ein wundervoller Begriff),hat das wohl Folgen für die Luftfeuchtigkeit und mithin für das Klima (sofern es nicht für die Förderung von Pflanzenwuchs verwendet wird)?

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    Verfasst von gkazakou | 3. Mai 2020, 12:42
    • Um auf diese Frage eingehen zu können muss ich einiges vorwegschicken: Je nach Temperatur und Druck kann sich in der Atmosphäre nur ein bestimmter Anteil an Wasserdampf aufhalten. Der höchste Wert ist die maximaler Feuchte (Wasserdampfkonzentration). Daneben gibt es die relative Feuchte. Sie ist das Verhältnis von tatsächlicher Feuchte zu maximaler Feuchte. Sie wird meist in % angegeben. Wird der Wert von 100% überschritten, (z.B. weil die Temperatur sinkt), dann verflüssigt sich der überschüssige Wasserdampf – es entsteht Nebel oder Tau. Wenn die Temperatur steigt und damit die maximale Feuchte wieder zunimmt, sinkt die relative Feuchte wieder unter 100% und Nebel und Tau verdampfen wieder.
      Wasser ist übrigens ständig am Verdunsten/Verdampfen und Kondensieren. Man kann das Gleichgewicht nur in die eine oder andere Richtung verschieben, wenn man die Temperatur erhöht oder erniedrigt, was ja in der Natur ständig stattfindet. Aber das ist dem Menschen nur in einem abgeschlossenen Raum möglich. In der Natur haben die Menschen nur insofern Einfluss darauf, dass z.B. die Ausbreitung von Wüsten durch ihre Aktivitäten (z.B. Abholzung vor Regenwäldern), eine Erhöhung der Erdtemperatur durch Erhöhung des CO2- Anteils in der Luft und das damit Schmelzen von Antarktiseis zur Folge hat.
      Zu deiner konkreten Frage: Der Mensch kann Wasser nicht großflächig am Verdunsten hindern, er kann nur an der Temperaturschraube drehen und das leider bislang nur in eine Richtung.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 3. Mai 2020, 13:50
  5. Guten Morgen, Joachim, ich zeichne gerade eine orange Blüte mit Tautropfen. Ein faszinierendes Spektakel.
    Einen schönen Tag von Susanne

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    Verfasst von Susanne Haun | 4. Mai 2020, 11:30
    • Guten Morgen, Susanne, Tautropfen zu malen stelle ich mir schwierig vor, weil – wenn man sie genau betrachtet – alle Welt in ihnen gespiegelt wird. Ich bin schon gespannt auf das Ergebnis.
      Ich wünsche dir einen schönen Tag und eine ergiebige Woche, Joachim.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 4. Mai 2020, 12:03
      • Oh, Joachim, ich habe die Tautropfen sehr minimalisiert. 🙂
        Aber die Idee, den einen Tautropfen zu malen, die gefällt mir 🙂 da muss ich genaustens schauen, vielleicht muss ich da mal einen Wassertropfen auf eine Pflanze geben, denn nicht immer bin ich so früh unterwegs, den Tau zu sehen.
        Liebe Grüße von Susanne

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        Verfasst von Susanne Haun | 7. Mai 2020, 08:20
      • Verstehe ich. Der Tau ist weg, sobald die Sonne einige Höhe erreicht hat. Die Idee mit einer Pinzette Wassertropfen dosiert auf eine Pflanze aufzubringen, wäre in der Tat ein Ausweg – obwohl das gar nicht so einfach ist.
        Liebe Grüße, Joachim

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 7. Mai 2020, 13:13
      • Ich nehme da den brachialen Weg, ich stelle die Spritze des Gartenschlauchs auf „Shower“ und begiesse die Blume solange (vorsichtig) bis Wassertropfen darauf stehen bleiben.
        Liebe Grüße von Susanne

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        Verfasst von Susanne Haun | 8. Mai 2020, 09:07
      • Da ist natürlich eine noch bessere Möglichkeit und kommt der natürlichen Beregnung noch wesentlich näher. LG, Joachim.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 8. Mai 2020, 10:47
      • Ja, das stimmt, Joachim, da macht es die Menge an Topfen! LG Susanne

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        Verfasst von Susanne Haun | 11. Mai 2020, 18:32
      • Ich denke, irgendwann wird es eine schöne Zeichnung mit Tropfen von dir geben… LG, Joachim

        Gefällt 1 Person

        Verfasst von Joachim Schlichting | 11. Mai 2020, 18:53

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  1. Pingback: Das Wassertröpflein | Die Welt physikalisch gesehen - 21. September 2020

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