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Marginalia, Physik im Alltag und Naturphänomene

Solitonen – Minitsunamis am Strand

Ich habe so manche Stunde am Nordseestrand verbracht und das faszinierende Naturschauspiel der Flut erlebt. Vor mir erstreckt sich bis zum Horizont ein lediglich durch kleinere und größere Pfützen bedecktes ansonsten weitgehend trockenes flaches Wattgebiet. Wie aus heiterem Himmel ändert sich plötzlich über den gesamten Horizont der Farbton des Wattgebiets: das Wasser kommt. Es dauert nicht lange, bis zu erkennen ist, wie auf breiter Front ein nur wenige Zentimeter hoher mit hellem Schaum belegter Wasserfilm auf mich zuläuft. Er erreicht schließlich leise plätschernd das Ufer und füllt die letzten freien Stellen, um anschließen nur noch zu steigen.
Die zunächst gleichbleibende Situation ändert sich als wieder ohne Ankündigung in nahezu regelmäßigem Abstand einzelne Wellen über das jetzt 10 bis 20 cm hohe Wasser auf das Ufer zulaufen (siehe Fotos). Diese merkwürdig stabilen, durch nichts zu bremsenden Wellen prallen gegen die gerade Uferböschung. Sie gehen jedoch nicht, wie man vielleicht erwarten würde verloren, sondern werden gewissermaßen am Ufer reflektiert und laufen zurück aufs Meer. Dabei begegnen sie ohne viel Aufhebens zu machen, den weiterhin ankommenden Wellen und durchqueren sie wie es scheint weitgehend störungsfrei. Je nachdem ob sie parallel oder unter einem mehr oder weniger großen Winkel aufeinander treffen summieren sich im Bereich der Begegnung kurzfristig die beiden Wellenhöhen, um anschließen so als ob nichts gewesen wäre ihren Weg fortzusetzen. Wie kommt es zu diesen ungewöhnlichen Wellen und was macht sie so stabil?

Wasserwellen werden vor allem durch den Wind erzeugt, der kleinste Störungen auf der Wasseroberfläche verstärkt und zu sogenannten Wellenpaketen zusammenschiebt. Dabei handelt es sich, ohne dass dies äußerlich zu erkennen wäre, um eine Ansammlung von Wellen unterschiedlicher Wellenlängen. Weil die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Welle von der Wellenlänge (der Entfernung von Wellenberg zu Wellenberg) abhängt, würde ein sich selbst überlassenes Wellenpaket den unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten der einzelnen Wellenlängen entsprechend mit zunehmender Entfernung auseinanderlaufen. Das sieht man zum Beispiel an einem ins Wasser geworfenen Stein. Dieser erzeugt zunächst eine Art Wasserwall, aus dem sehr schnell ein System von konzentrischen Ringwellen hervorgeht, die nach Wellenlängen sortiert auseinanderlaufen. Dabei eilen – im Falle der hier betrachteten Schwerewellen – die Wellen mit den größeren Wellenlänge denen mit der kleineren voraus.
Wenn eine Meereswelle ins flachere Wasser rollt, wird sie gebremst, vorne stärker als hinten. Dadurch steilt sie sich zu einem Wellenpaket auf. Bei derartigen Flachwasserwellen hängt die Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht nur von der Wellenlänge ab, sondern auch von der Amplitude, also der Höhe der Wellen. Wenn die mit der Dispersion verbundene Tendenz auseinanderzulaufen infolge der Wechselwirkung mit dem Boden gerade kompensiert wird, kommt es zu einer die Form stabilisierenden Rückkopplung. Auf diese Weise behalten solche Wellen über lange Strecken hinweg ihre Form bei. Dabei spielt die niedrige Viskosität des Wassers eine wesentliche Rolle, weil dadurch die Energieverluste durch innere Reibung verhältnismäßig gering sind. Solche einzelnen stabilen Wellen werden Solitonen genannt.
Bei einer gewöhnlichen Welle bewegt sich jede Wasserportion auf einer kreisförmigen oder elliptischen Bahn. Das Wasser tritt gewissermaßen in geschlossenen Kreisen auf der Stelle, während die Welle über das Wasser läuft. Bei dieser normalen Wellenerscheinung wird also kein Wasser über das Gewässer transportiert. Eine solitäre Welle tut aber genau das.
Dieses Phänomen konnte John Scott-Russell (1808 – 1882) im Jahre 1840 auf einem langen Kanal durch zahlreiche Experimente mit von Pferden gezogenen Booten demonstrieren.* Es zeigte sich eindeutig, dass das Wasser am hinteren Ende des Kanals um etwas denselben Betrag höher stand als es am vorderen Ende gesunken war.
Diese im kleinen harmlosen solitären Wasserwellen am flachen Strand haben große Ähnlichkeit mit dengewaltigsten und gefährlichsten Monsterwellen, die als Tsunamis bezeichnet werden, die sich bei starken Erdbeben bilden können, wenn der Ozeanboden erschüttert wird. Die Wissenschaftler sind sich jedoch nicht einig, ob Tsunamis Solitonen im hier skizzierten Sinne sind.
Ebenso wie Wellen sich nicht nur auf fließendes Wasser beziehen, sondern auch in anderen Bereichen, der Elektrizität, Astrophysik, Optik usw. beobachtet werden, gibt auch dort Solitonen, die besondere unerwartete Phänomene hervorbringen.


* John Scott-Russell, Rep. 14th Meeting Brit. Ass. Adv. Science 1844, S. 311-390

Diskussionen

8 Gedanken zu “Solitonen – Minitsunamis am Strand

  1. Das klingt spannend. Und ich dachte immer: Welle ist Welle 🙂

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    Verfasst von kopfundgestalt | 12. Mai 2020, 00:13
    • Obwohl Wellen phänomenologisch einfache Gebilde zu sein scheinen, sind sie physikalisch äußerst komplexe Gebilde, die ja nicht nur als Wasserwellen, sondern in allen Bereichen der Physik von großer Bedeutung sind.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 12. Mai 2020, 08:58
      • Jetzt kannst du ja hier in deinem Blog „nur “ Wasserwellen darstellen. Wellen anderer physikalischer Bereiche kann man wohl da nur indirekt darstellen.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 12. Mai 2020, 10:38
      • Das stimmt, andere Wellenformen (z.B. die optischen bei Strukturfarben) kann man nur graphisch visualisieren. Dem Licht sind sie nicht direkt anzusehen. Aber, so anschaulich die Wasserwellen auch sein mögen, mathematisch sind sie äußerst komplex.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 12. Mai 2020, 12:40
  2. Soviele spannende Informationen! Da kommen mir nicht nur Bilder, zB vom Fluss, der ins Meer läuft (bilden sich da Solitonen?), sondern es bilden sich auch Fragen verschiedener Wellenlänge, sozusagen Wellenpakete, die nicht wissen, wie sie sich ausdücken sollen und erst mal kreuz und quer durcheinander laufen.Vielleicht sortieren sie sich ja bis morgen nach Größe und Schwere,… Jetzt wünsche ich erstmal eine Gute Nacht.

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    Verfasst von gkazakou | 12. Mai 2020, 00:24
    • Das ist auch wahrlich kein einfaches Thema. Ich wollte es selbst einmal verstehen, nachdem ich viele Male am Strand sitzend das auflaufende Wasser beobachtet und mich darüber gewundert habe, wie es zu diesen überaus stabilen und durch nichts zu bremsenden Einzelgängern kommt. Wie du schon andeutest können sie auch metaphorisch genutzt werden. Als Tsunamis sind diese Biester – wie man seit einigen Jahren weiß – nicht zu unterschätzen.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 12. Mai 2020, 12:35
  3. Das ist ja mal wieder richtig spannend.

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    Verfasst von Kaya Licht | 12. Mai 2020, 10:04

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