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Physik im Alltag und Naturphänomene

Bewege dich, damit ich dich sehe

Wenn sich nach tagelanger Abwesenheit die Spinnen – meist langbeinige Zitterspinnen (siehe Abbildung) – im Hause ausgebreitet und ihre Netze gespannt haben, erleben sie regelmäßig das wahre Wunder. Als Tierfreund sauge ich sie nicht einfach mit dem Staubsauger weg, wie es ansonsten wohl üblich ist, sondern ergreife sie mitsamt eines Teils ihres Netzes in der hohlen Hand und trage sie hinaus in die große weite Welt. Dabei bleiben sie in der Regel völlig unversehrt.
Schleudere ich sie dann zu Boden (ohne eine solche Beschleunigung blieben sie mit dem Netz in der Hand kleben), sehe ich die Winzlinge aus meiner Höhe erst, wenn sie sich bewegen. Oft bleiben sie zunächst wohl etwas verdutzt stehen/liegen, setzen sich dann aber beherzt in Bewegung, um zu neuen Ufern aufbrechen. Erst dann kann ich sie verfolgen, wie sie sich mit ihren langen Beinen von einem Grashalm zu Grashalm hangeln. Solange sie ruhten, waren sie mit ihren grashalmähnlichen Beinen gewissermaßen eins geworden mit dem Hintergrund.
Dieses Phänomen, dass in bestimmten Situationen bewegte Objekte wesentlich deutlicher wahrgenommen werden als ruhende, ist mir auch noch in anderen Situationen aufgefallen. Fahre ich im Frühling morgens mit dem Fahrrad durch die frischen Wiesen und Getreidefelder, sehe ich oft meinen Schattenkopf von einem prächtigen Heiligenschein umgeben. Wenn ich dann anhalte, um die Situation in Ruhe zu betrachten, bin ich meist enttäuscht, weil der Heiligenschein dann gar nicht mehr so prächtig ist – ich sehe ihn dann nur, weil ich weiß, was ich zu sehen habe.
Es muss sich gar nicht unbedingt um reale Bewegungen handeln, um diesen Effekt zu erleben. Mit einem kleinen Computerprogramm kann man folgende Situation schaffen: Den Bildschirm wird mit Hilfe eines Zufallsgenerators mit kleinen weißen und schwarzen Feldern „belegt“. Tauscht man jetzt per Tastendruck in einem definierten Bereich, z.B. in Form eines „L“, die weißen gegen die schwarzen Felder aus, so sieht man dieses „L“ für eine kurze Zeit aus dem weißen Rauschen hervortreten und dann wieder im Hintergrund verschwinden. Auch wenn man sich noch so bemüht, schafft man es nicht das „L“ für längere Zeit „festzuhalten“.

Derartiges Bewegungssehen wird im Bereich der visuellen Wahrnehmung wissenschaftlich untersucht. Dabei zeigt sich, dass die Wahrnehmung von Bewegungen an sich schon keine Selbstverständlichkeit ist und eine ausgeklügelte Fähigkeit darstellt, in einer bewegten Welt zurechtzukommen. Die Information, dass sich in einem bewegungslosen Wahrnehmungsfeld plötzlich etwas bewegt, ist für manche Tiere und war es wohl auch für den Menschen überlebenswichtig. Umgekehrt nutzen einige Tiere (z.B. junge Rehkitze) die Bewegungslosigkeit, um nicht so leicht entdeckt zu werden.

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Diskussionen

2 Gedanken zu “Bewege dich, damit ich dich sehe

  1. Ich nutze eine CD-Spindel, um Insekten und Spinnen nach draussen zu tragen. Die liegt auf der Treppe allzeit bereit.

    Das mit dem „L“ und ähnliches führte auch der Kognitionsforscher D. Hoffman an, um seine These zu untermauern, daß das was wir sehen, nicht einer irgendwie gearteten Realität „da draussen“ entspricht, sondern rein für Fitnesszwecke so entstanden ist.

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von kopfundgestalt | 29. August 2020, 09:51
    • So hat eben jeder seine Technik.
      Dass wir den optischen Sinneseindrücken (Baum, Haus usw.) Bedeutung zuordnen, ist ein langer Lernprozess. Dass weiß man u.a. von blind geborenen Menschen, die später sehend wurden und zunächst mit den Lichteindrücken überhaupt nichts anfangen konnten.

      Gefällt 1 Person

      Verfasst von Joachim Schlichting | 29. August 2020, 10:12

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