H. Joachim Schlichting. Physik in unserer Zeit 51/6 (2020), S. 308
Ein vor einer kalten Fensterscheibe befindliches Hindernis ermöglicht eine Visualisierung der Strömung wärmerer Luft.
Wenn ich in der kalten Jahreszeit die Tür von der geheizten Wohnung zum kalten Wintergarten einige Zeit geöffnet lasse, beschlagen die Fensterscheiben – bis auf einen kleinen Bereich, der trotz allem trocken bleibt und einen ungetrübten Durchblick auf die Winterlandschaft erlaubt. Auffällig daran ist, dass sich dieses Guckloch stets unterhalb einer kleinen Glocke bildet, die aus Dekorationsgründen unmittelbar vor der Fensterscheibe hängt.
Indem durch die geöffnete Tür warme Luft und warmer Wasserdampf in den Wintergarten strömen, steigen diese zunächst auf, weil ihre Dichte geringer ist als die der kalten Gase im kalten Raum. Gleichzeitig strömen im unteren Bereich zum Ausgleich kalte Gase zurück, sodass eine großräumige Konvektionsströmung entsteht: Die aufgestiegenen warmen Gase bewegen sich zur kalten Fensterfront, kühlen dort ab und sinken wegen der mit der Temperaturabnahme verbundenen Zunahme der Dichte vor dem Fenster herab. Durch die Abkühlung wird der Taupunkt unterschritten und überschüssiger Wasserdampf kondensiert an den zahlreichen Keimen der Fensterscheibe zu kleinen Wassertröpfchen. Denn mit der Temperaturabnahme sinkt die maximal mögliche Dampfkonzentration (maximale Feuchte). Anschaulich gesagt: die Wassermoleküle werden langsamer und bevorzugen den weniger beweglichen flüssigen Zustand. Wenn aber die maximale Feuchte kleiner wird als die absolute, tatsächlich vorhandene Feuchte, bleibt dem überschüssigen Dampf nichts anderes übrig, als an geeigneten Keimen in Form von winzigen Wassertropfen flüssig zu werden. Fast die gesamte Scheibe beschlägt und erschwert den Durchblick nach außen. Denn die zwar transparenten aber winzigen Tropfen streuen das von den Gegenständen ausgehende Licht in alle Richtungen.
Die Glocke ist ein Hindernis für die am Fenster absinkende Strömung, indem diese im Bereich der Glocke vom Fenster lokal abgelenkt wird. Aus Trägheit gelangt der Wasserdampf der Form der Glocke entsprechend erst ein Stück tiefer wieder an die Scheibe, um seine überschüssige Feuchte am Fenster loszuwerden. Dementsprechend bleibt der im Windschatten der Glocke befindliche Bereich der Scheibe von der feuchten Strömung verschont und deshalb trocken und durchsichtig. Der trockene Bereich wird somit nicht nur zum Guckloch auf die Landschaft, sondern visualisiert indirekt auch die Strömungsverhältnisse von Luft und Wasserdampf in dem einseitig von Wärme überfluteten kalten Raum.
Eingereichter Text
Publizierter Beitrag: Ein trockenes Loch im Tröpfchenbelag.
Bildunterschrift
Durch die Ablenkung des feuchten Luftstroms wird die Kondensation verhindert.
Kleine Ursache grosse Wirkung 😃
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Könnte man sagen. Interessant ist hier wieder einmal, dass bestimmte Vorgänge erst wahrgenommen werden, wenn damit auffällige Begleiterscheinungen verbunden sind.
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Ja, eine Art Visualisierung 😃
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Was wären die Menschen ohne Augen?
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Das ist unser hauptsächliche Sinn.
Was so alles über ihn läuft, ist erstaunlich.
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Das stimmt! Die Naturwissenschaften, vermutlich sogar alle Wissenschaften, sind „Sehwissenschaften“. Das wurde bereits von den alten Griechen, in deren Tradition die westlichen Wissenschaften stehen, so „festgelegt“.
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