Heute ist der Welttag des Buches. Dazu habe ich mich bereits in den Vorjahren geäußert (z.B. hier und hier). Auch habe ich kürzlich mein kleinstes Buch vorgestellt. Das größte Buch steht noch aus: Die Welt als Buch.
Diese Metapher hat zumindest seit den alten Griechen das westliche Denken mitbestimmt. Italo Calvino (1923 – 1985) sieht den Faden der Schrift als „Metapher für die staubförmige Substanz der Welt“ und weist darauf hin, dass „schon für Lukrez die Buchstaben Atome in permanenter Bewegung (waren), die durch ihre Permutationen die verschiedensten Wörter und Laute erzeugten, ein Gedanke, den eine lange Tradition von Denkern aufgreifen sollte, für die sich die Geheimnisse der Welt in der Kombinatorik der Schriftzeichen fanden“ [1].
Wenn aber die Welt ein Buch ist, dann muss man sie lesen können. Diese Aufgabe treibt insbesondere die Protagonisten der neuzeitlichen Physik um. Galileo Galilei (1564 – 1642) hat dies in einem viel zitierten Satz ausgesprochen und auch gleich die Art der Buchstaben benannt:
„Die Philosophie ist in dem großen Buch der Natur niedergeschrieben, das uns immer offen vor Augen liegt (i.e. das Universum), das wir aber erst lesen können, wenn wir die Sprache erlernt und uns die Zeichen vertraut gemacht haben, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, deren Buchstaben Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren sind; ohne deren Kenntnis ist es dem Menschen unmöglich, auch nur eine einziges Wort zu verstehen“ [2] .
Auch Johannes Kepler (1657 – 1630), kongenialer Zeitgenosse von Galilei, teilt diese Ansicht insofern, als er die Welt aus Zeichen zusammengesetzt ansieht:
„Ich aber sage [ … ], daß Gott [ … ] mit den Signaturen der Dinge also gespielet und sich selbst in der Welt abgebildet habe. Also daß es einer auß meinen Gedancken ist, Ob nicht die gantze Natur und alle himmliche Zierligkeit in der Geometria symbolisirt sey“ [3].
Die Überzeugung, dass die Welt die physikalischen Aspekte gleichsam ablesbar an sich habe, ist bis heute anzutreffen. Zumindest als Metalesson bestimmt sie die Lehre der Physik: Farben werden als Wellenlängen gelesen und der blaue Himmel ist ein Streuphänomen entleert von allen sinnlichen Gehalten entleert.
So ist mit Hans Blumenberg (1920 – 1996) zu sprechen schon früh eine alte Feindschaft zwischen den Büchern und der Wirklichkeit gesetzt, die m.E. nicht unwesentlich zur Unbeliebtheit des Physikunterrichts beiträgt:
„Das Geschriebene schob sich an die Stelle der Wirklichkeit, in der Funktion, sie als das endgültig Rubrizierte und Gesicherte überflüssig zu machen. Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden“ [4].
Galileis Buchmetaphorik wird z.B. damit begründet, dass sich eine ideale Übereinstimmung von beschriebenen Regularitäten und beschreibendem Regelsystem der Mathematik ergab. Es wird davon ausgegangen, dass Gott bei der Erschaffung der Welt, einen mathematisch Plan umsetzte und beispielsweise die kreisenden Planeten auf unmittelbare Weise die Gedanken Gottes nachzeichneten.
Mit der Säkularisierung werden die Dinge selbst zu rechnenden Objekten, so als würden die Planeten Bewegungsgleichungen integrieren, um auf ihren Bahnen zu bleiben. Diese Auffassung zeigt sich auch indirekt in bestimmten physikalischen Sprechweisen. So wird beispielsweise gesagt, ein sich in bestimmter Weise verhaltendes System gehorche dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik oder das Ohr führe Fouriertransformationen durch, um die in einem Schallsignal enthaltenen Töne zu identifizieren. Georg Christoph Lichtenberg (1732 – 1799) sagt es ganz explizit: „Unser Hören und vielleicht auch unser Sehen besteht schon in einem Zählen von Schwingungen“ [5]. Er sagt damit nicht mehr aber auch nicht weniger, als dass die Dinge sich genauso verhalten wie die erkennenden Menschen, die z.B. zählend und integrierend (was auch als eine Art des Summieren angesehen werden kann) die Welt erschließen und Phänomene auf diese Weise erfassen und beschreiben.
Natürlich denken nicht alle Physiker so, weil sie um die selbst auferlegten Beschränkungen der physikalischen Sehweise wissen. So karikiert beispielsweise der Physiker Arthur Eddington (1882 – 1944) diese Position mit den Worten. „Der Materialist, der davon überzeugt ist, dass alle Phänomene aus Elektronen und Quanten und dergleichen entstehen, die durch mathematische Formeln bestimmt werden, muss vermutlich glauben, dass seine Frau eine ziemlich ausgeklügelte Differenzialgleichung ist; aber er ist wahrscheinlich taktvoll genug, diese Meinung nicht im häuslichen Leben zu äußern“ [6] (Übers. HJS).
Die Auffassung, dass die Welt ein in mathematischen Zeichen geschriebenes Buch sei, ist teilweise bereits in die Alltagssprache abgesunken, ohne dass sich die meisten dessen bewusst wären. Wenn beispielsweise Teile des menschlichen Gehirns als Festplatte bezeichnet werden, auf die man Erlebten, Gelerntes u. Ä. speichern und wieder abrufen könne, wird implizit unterstellt, dass alles auf Nullen und Einsen reduziert werden kann.
[1] Italo Calvino. Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. München und Wien 1991, S. 45.
[2] Galileo Galilei, Il Saggiatore (Die Goldwaage) (1623); in: Opere, Ed. nazionale. Firenze, 1890 -1909, Bd. vi, S.232.
[3] Johannes Kepler. Gesammelte Werke Bd. 4, S. 245f
[4] Hans Blumenberg. Die Lesbarkeit der Welt S. 17
[5] Georg Christoph Lichtenberg. Sudelbücher I, S.280
[6] Arthur Eddington. The nature of the physical world. Cambridge 1928, p.341 (im Original: “The materialist who is convinced that all phenomena arise from electrons and quanta and the like controlled by mathematical formulae, must presumably hold the belief that his wife is a rather elaborate differential equation; but he is probably tactful enough not to obtrude this opinion in domestic life.”)
Von Gehirnprozessen weiss man mittlerweile sehr viel, aber das ganze bleibt für alle Zeit ein Geheimnis. Man weiss ja nachwievor nicht, was Bewusstsein ist .
In den evolutionären Wegen sind so viel „sprünge“ festzustellen, die man nicht erklären kann. Dennoch ist Evolution richtig.
Man ist gefangen im menschlichen Geist und kann da nicht raustreten, auch wohl nicht mit Mathematik .
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Es ist und bleibt das Problem, dass man sich im Kreise dreht, wenn man mit dem Denken das Denken bzw. das Bewusstsein ergründen möchte. Es fehlt die Außenperspektive…
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Platos Höhlengleichnis.
Selbst ;Mathematik, der man ja Uinversalität zuspricht, kann „nicht aus dem Kreis treten“…
Gemeinhin wird Naturwissenschaftlern Physikalismus unterstellt bzw. zugesprochen.
Wie ist denn da deine Erfahrung?
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Wenn du mit „Physikalismus“ meinst, dass Naturwissenschaftler meinen, letztlich könne alles auf Naturwissenschafte reduziert werden (auch Gefühle, Gedanken etc.), so ist das schon zu beobachten. Thomas S. Kuhn meint dazu, dass dies auch als Forschungsapriori nötig sei, um den jeweiligen Zielen mit aller Hingabe nachzugehen und sich durch keine Zweifel davon abhalten zu lassen. Ein typischer Vertreter dieser Einstellung, der sie auch vehement nach außen getragen hat, ist Stephen Weinberg.
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Danke für die Namensnennung. Werde ich mir ansehen.
Gibt es auch Überlegungen, wie eine Welt aussähe, die tstsächlich in der Zukunft völlig erklärbar wäre?
(Wobei „völlig“ natürlich noch zu diskutieren wäre).
Man hat doch in der Mathematik bspw. beweisen können, daß es für bestimmte Probleme keinen Beweis gibt. So könnte man doch auch überlegen, was das konkret bedeuten würde, wenn die Welt erklärbar wäre.
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O, O, das sind schwierige philosophische Fragen. Eine im Prinzip völlig erklärbare Welt, wovon die klassische Physik ja ausgeht, würde bedeuten, dass bereits alles feststeht und wir wie bei einem geworenen Stein uns zwangsläufig uns auf einer festgelegten Bahn befänden. Willensfreiheit wäre ebenso eine Illusion wie die Möglichkeit irgendeine Entscheidung zu treffen. Dieses Denken führt im Übrigen zu Antinomien.
Was den Gödelschen Satz betrifft, auf den du ja anspielst, so wurde bewiesen, dass in einem (halbwegs reichhaltigen) mathematischen System die eigene Widerspruchsfreiheit nicht bewiesen werden kann.
All dies zeigt, dass wir uns mit unserem Denken tunlichst von den Grenzen entfernt halten sollten.
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Die Quantenphysik, so wie ich sie als laie „kennengelernt“ habe, sieht ja “ den zufall“ vor, siehe die Katze im bekannten gedankenexperiment.
So könnte man welt erklären helfen,ohne dem determinismus zu erliegen.
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Aber sobald der Zufall ins Spiel kommt, ist deine Voraussetzung einer völlig erklärbaren Zukunft nicht mehr erfüllt.
Übrigens kommt der Zufall nicht nur in der QM ins Spiel. Die alten griechischen Atomisten hatten in Form des Clinamens auch bereits so etwas wie kleine zufällige Abweichungen, mit denen man dem Determinismus zu entgehen versuchte. Wenn dich das interessiert, schau dir mal das PDF auf der folgenden Seite an: https://hjschlichting.wordpress.com/1999/11/05/die-strukturen-der-unordnung-chaosphysik-zwischen-zufall-und-notwendigkeit/
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Ich hatte das schon mal ausgedruckt gehabt, aber noch nicht gelesen.
Schlimm ist das… 😉
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Das kenne ich auch. Mit nimmt sich mehr vor als man schafft. Ich fände es umgekehrt schlimmer… 😉
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Feiner Post, mit Hochgenuss gelesen …
Herzliche Grüße zur Nacht vom Lu
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Vielen Dank, das freut mich…
Liebe Grüße, Joachim.
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⭐ ⭐ ⭐
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🙂
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