
Es gibt kaum eine Situation, in der die Natur eine hässliche Gebärde an den Tag legt, selbst wenn es den ganzen Tag geregnet hat. Wenn ich mir vorgestellt hätte, wie dasblühende Schilf, der sich sanft den Stromlinien des Windes nachgebend eine äußerst elegante Form annimmt, wohl nach einer kühlen feuchten Nacht aussieht, so wäre ich kaum auf ein Bild gekommen wie auf dem Foto zu sehen. Diesmal gehorcht das Schilf der Schwerkraft, die durch die Belastung des Blüten- und Blätterwerks mit einer verhältnismäßig großen Wasserlast zu einer dominierenden Größe geworden ist, indem es sich in eindrucksvoller Gestalt dem Boden zuneigt.
In der vorausgegangenen klaren Nacht haben sich vor allem die feinen Strukturen des Blütenstands und die dünnen Blätter des Schilfrohrs sehr schnell abgekühlt. Denn aufgrund ihrer Feingliedrigkeit haben sie nur eine geringe Dichte und damit eine auf das Volumen bezogene geringe Wärmkapazität, sodass ihre Temperatur schneller sinkt als bei kompakteren Pflanzen und Gegenständen. Und weil bei großer Feuchte mit der schnell sinkenden Temperatur ebenso schnell der Taupunkt erreicht wird, kondensiert der Wasserdampf der Luft vor allem an diesen Strukturen.
Indem die wasserliebende (hydrophile) Pflanze vor allem im feingliedrigen Blütenstand Kondenswasser aufnimmt, steigt dort einerseits ihre Masse und andererseits „verkleben“ die feuchten Strukturen miteinander, weil sich die Wassertropfen vereinigen. Denn dadurch wird Oberflächenenergie gespart: Mehrere Tropfen zusammen haben eine auf das Wasservolumen bezogene kleiner Oberfläche. Durch diese Vorgänge wird das Schilfrohr kopflastig und neigt sich dem Boden zu. Die durch die Vereinigung entstandenen größeren Tropfen bewegen sich zur tiefsten Stelle und fallen ab, sobald die Schwerkraft die Oberflächenkraft (Adhäsionskraft) mit der die Tropfen an der Pflanze haften übersteigt. Man sieht auf dem Foto einige Tropfen an den Spitzen, bereit abzufallen, sobald das Maß voll ist.
Das ist die physikalische Geschichte, die eine Pflanze nach einer klaren, kühlen Sommernacht erzählen könnte. Ich habe es ihr abgenommen und es gleich versucht in Deutsche zu übersetzen.
Unlängst habe ich einen Bambus aufgerichtet.
Zunächst sah ich wenig Wasserlast , aber jedes Schütteln richtete ihn mehr und mehr auf. Der Rest an Wasser, wohl kleinere Tröpfchen, wollte noch nicht so ganz aufgeben. 😀
Was unbeseeltes Leben wie die Tropfen will, sich zu vereinigen zwecks Sparen von Energie mag das Interesse des Bambus, einer höheren Daseinsform, zuwiderlaufen. Doch alle Daseinsformen sollten kooperieren können. Trotz aller Komplexität sollte das möglich sein.
Zu komplex ist oft eine Ausrede. Denn wie man sieht, ist sie seit jeher angelegt. Das sollte dann doch Hoffnung machen.
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Es ist ja nicht nur der Vereinigungsdrang zu beobachten. Lass einen Tropfen eine Zeitlang in trockener Umgebung ungestört allein und er wird über kurz oder lang verschwunden sein – aufgelöst im Aggregatzustand des Dampfes.
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Ich fasse kurz zusammen: „zauberhaft“ . Mit einem Augenzwinkern grüßt Marie
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Aus einer gewissen Perspektive sind die Vorgänge schon zauberhaft: In trockener Umgebung entsteht etwas Nasses… Ich augenzwinkere zurück und grüße dich zu einem hoffentlich angenehmen Tag (zumindest vom Wetter her). Joachim.
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bevor es physik wurde,
als die physik noch im dunkeln lag umschrieb man es vielleicht so:
hier hilft nur warten auf den rechten augenblick
hier entwickelt sich notwendigkeit im werden und geschehen
hier laufen uhren ab die niemand stellt
hier betrittst du das reich der gesetze aus einer anderen welt
hier prägt sich dem hingehaltenen leben ein ethos ein:
warte auf den vorbestimmten rechten augenblick in dem auch deine hinfälligkeit sich zeigt denn du bist nur ein tropfen, ein brückenstein im gefüge notwendiger wohlbedachter gesetze die über dich hinweg regnen
sei beugsam und biegsam denn dein platz ist vorbedacht und unveränderbar
wären wir glücklicher, wenn die physik geschwiegen hätte?
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Physik macht m.E. nicht unbedingt glücklicher, aber sie hilft sich vor Fake-News zu schützen.
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