
Wie kaum ein anderer Dichter hat sich Bertolt Brecht (1898 – 1956) mit der Mathematik und den Naturwissenschaften auseinandergesetzt. Dabei muss man nicht nur an das „Leben des Galilei“ denken, in dem er entscheidende Ideen der neuzeitlichen Physik auf eindrucksvolle Weise auf den Punkt bringt. Es ist überliefert, dass Brecht die Entwicklungen in der modernen Physik des 20. Jahrhunderts aufmerksam verfolgte und beispielswiese 1930 einen Vortrag über Kausalität von Albert Einstein hörte und bewunderte. So blieb es nicht aus, dass Ideen der Physik insbesondere in seine Vorstellungen über das neue Theater eingeflossen sind. Beispielsweise stellte er sich New Yorker Theaterleuten im Jahr 1935 mit den Worten vor: „Ich bin der Einstein der neuen Bühnenform“.
Natürlich war Brecht nicht gefährdet, mathematisch naturwissenschaftliche Ideen auf die Probleme der Gesellschaft zu übertragen. Eher ging es ihm darum, die Diskrepanz zwischen den Kalkulierbarkeiten der Naturwissenschaften und der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar zu machen. So auch in dem Fragment gebliebenen Gedicht „Gespräch über den Alltagskampf“. Es wiurde in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben und für ein Stück über Rosa Luxemburg (1871 -1919) gedacht.
Gespräch über den Alltagskampf
Mit zwanzig hätte ich gern Mathematik studiert und Sternkunde
In den Zahlen waschen wir das Unreine
Aus Geschehen und Körpern. Selbst das Zufällige, das
Uns so quält in den Kämpfen, erscheint
In den Wahrscheinlichkeitskalkulationen
der Mathematik gebändigt. Die großen
Bewegungen der Gestirne gestatten
Gute Voraussagen. Auch da
Sind die Kugeln im Weltraum nicht völlig rund, die Kurven
Gespräch über den Alltagskampf
Nicht ganz stetig, aber beobachtet über Sternjahre
Und Weltraumentfernungen befriedigen sie
den ordnenden Geist.
Auch hättest du, Mathematik studierend und Sternkunde an statt
Politik und Wirtschaft, weniger Betrug getroffen. Die Sternbahnen
werden nicht so verheimlicht als die Wege der Kartelle. Der Mond
Klagt nicht auf Geschäftsschädigung.*
* Bertold Brecht. Gesammelte Werke 10. Gedichte 2. Frankfurt 1967, S. 966
Zeitlos gültig, was Brecht sagte.
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Ja, Brecht hat viel zeitlos gültiges gesagt. Er gehört zu meinen Favoriten (im Bereich der Dichtkunst).
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Vor Allem der letzte Satz gefällt mir… was stellt das Foto dar?
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Das Foto ist aus der Natur genommen, ein Ausschnitt aus einem Fließgwässer im Botanischen Garten von Münster. Es ist im Licht/Schattenbereich eines Baumes aufgenommen. Feiner Schaum trägt auch mit zum Gesamteindruck bei. Irgendwie wurde ich durch die numerische Abfolge der driftenden Strukturen an das Brechtsche Gedicht erinnert. Ist vermutlich nicht von jeder/jedem nachzuvollziehen 😉 Gruß, Joachim.
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Die Unerträglichkeit des Seins ist der große Inspirator für die Inseln des reinen Seins. Der Mensch, ein Inselhopper.
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Ja, ich glaube zu verstehen, was gemeint ist. 🙂
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ist das (relativ) Geordnete und Berechenbare auch für dich ein Motiv gewesen, dich der Physik zuzuwenden?
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Ich habe mit Germanistik und Theaterwissenschaften begonnen und bin dann über die Philosophie (bei Carl Friedrich von Weizsäcker) zur Physik gekommen. Ja, vielleich kann man es so sagen. Mich hat schon fasziniert und fasziniert mich immer noch, dass man bestimmte Teile des Weltgeschehens „berechnen“ kann. Ein Erweckungserlebenis (wenn man so will) war eine Wattwanderung von Sahlenburg zur Insel Neuwerk. Ich startete im fast trockenen Watt, schaute zur Uhr und dachte, laut Tidenkalender müsste jetzt das Wasser auflaufen. Kaum gedacht, hörte ich auch schon das feine Knistern gefolgt von einem nur zentimeterhohen Wasserstrom, der auf weiter Front zum Stand eilte… Mir kam es in diesem Moment wie ein Wunder vor, dass die Welt auf eine bestimmte Weise berechenbar ist.
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Danke, Joachim, ich kannte das Gedicht von Brecht nicht.
Ja, die Mathematik scheint uns logischer als das Geschichtliche oder Fiktive.
Ich frage mich oft, ob das tatsächlich so ist.
Zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, ich erinnere mich, dass unser Lehrer in der ersten Stunde dieses Gebiets darauf hinwies, dass die Wahrscheinlichkeit einen Balkon auf dem Kopf zu bekommen größer ist als 6 richtige im Lotto zu tippen.
Ich finde diesen Vergleich nach so vielen Jahren immer noch amüsant!
Viele Grüße von Susanne
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Brecht hatte ein sehr einfühlsames und aus meiner Sicht treffendes Verhältnis zu Mathematik und Physik. In seinen theoretischen Schriften hat er dazu auch einiges geschrieben, was von einem sehr großen Problembewusstsein zeugt.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist wirklich ein Fall für sich. Sie „passt“ für große Zahlen erstaunlich gut und ist fast nichtssagend für den Einzelfall.
Sei herzlich gegrüßt, Joachim.
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Liebe Susanne, noch einmal etwas Organisatorisches. Ich kann in deinem Blog keine Kommentare abgeben. Wenn ich auf das WordPress-Symbol klicke (was früher nicht nötig war, weil das System mich erkannt hat, kommt jetzt dieser Schrieb: https://jetpack.wordpress.com/public.api/connect/?action=verify&service=wordpress&domain=susannehaun.com. Er lässt sich aber auch nicht anklicken? Irgend etwas scheint also nicht zu stimmen. Da ich bei anderen Bloggern keine Probleme habe, liegt es wohl an deinem neuen Design. Aber mach dir deswegen keinen Stress. Notfalls schicke ich dir direkt eine Email. Gruß, Joachim.
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Lieber Joachim, leider bekomme ich nur eine leere Seite angezeigt, wenn ich auf dem Link klicke, kannst du mir einen Bildschirmausdruck der Meldung senden (info@susannehaun.de) ?
Danke 🙂
Einen schönen Tag von Susanne
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Ich habe dir eine Kopie des Bildschirms an die von dir angegebene Adresse geschickt.
LG, Joachim.
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