
Heute jährt sich der Geburtstag von Paul Valéry (1871 – 1945) zum 150. Mal. Valéry ist vor allem als Lyriker bekannt. Ich schätze ihn darüber hinaus als äußerst scharfsinnigen Denker und Essayisten, der auch noch so sicher geglaubte Dinge analysiert, hinterfragt, präzisiert und das in einer oft ausdruckstarken Weise. Insbesondere in seinen Cahiers findet man eine Fülle von tiefen Gedanken wie beispielsweise den folgenden:
Der Nachweis der Erdrotation ist ein schwerwiegendes Ereignis der Geschichte. Dreht sie sich denn, so wissen meine Sinne nicht von dieser Geschwindigkeit und tun sie nur indirekt kund. Ich glaubte etwas zu wissen. Wenn mir eine derart gewichtige Tatsache unbekannt bleiben konnte, wenn es so vieler Jahrhunderte und Umwege bedurfte, um sie zu entdecken, wie mancher Verdacht muß da nicht auf das fallen, dessen ich mich sicher wähnte!
Wie kümmerlich, auf einem Kreisel zu sitzen!
Das wissenschaftliche Befremden beginnt und wird nicht mehr aufhören. Es treibt die Religionen und Legenden davon und zieht sie wieder herbei. Christus hätte ein solch albernes, solch ungeheures Wunder nicht auszusprechen, die Heilige Schrift nicht zu schreiben gewagt.
Die Menschheit verhält sich nicht wie eine Gruppe, die sich auf einem Kinderkreisel sitzen weiß.
Paul Valéry. Cahiers 2. Frankfurt 1988, S.95
Mehr denn je ist es so, daß Zusammenhänge sichtbar werden, an die niemand je gedacht hatte.
Selbst im Chaos zeigt sich bisweilen untergründige Ordnung.
Zuerst mal aber muss jemand an eine solche glauben und dann muss man die Werkzeuge finden, um einen Nachweis zu erbringen.
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Valéry spielt vor allem auf die Diskrepanz zwischen unmittelbarem Erleben (z.B. von Geschwindigkeit) und tatsächlicher Beobachtung. Die Frage ist immer wieder, worin die Kriterien für die Realitätswahrnehmung bestehen. Ist es das „naiv“ Erlebte oder das theoretisch Berechnete.
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Sitzen wir denn auf einem Kreisel? Der wird ja, nachdem er angestoßen wurde, aufgrund der Reibung immer langsamer. Ist das bei der Erde der Fall?
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Ja, das ist Fall, die Erde wird langsamer. Hauptursache ist die Gezeitenreibung. Die Gezeiten laufen gezogen vor allem vom Mond wie zwei Bremsbacken über die Erde.
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Mit einem Kreisel zu spielen ist für Kinder wie mit Seifenblasen zu hantieren eine faszinierende Sache. Wenn man es beobachtet, so sieht man, wie sie oft in diesen Bann gezogen werden, den das „Spiel“ verursacht. Wir sind eben „einlullbare Wesen“, blenden nur zu gerne unangenehme Wirklichkeit aus.
In Deinem letzten Artikel „abprallendes Licht“ schreibst Du zu Recht: „Allerdings mied man diesen Anblick, weil einem (die Sonne) -hier das Kreisel wenn man einem solchen lebt- unangenehm (blendete) berührt. Und unangenehmes blendet man gerne aus, sodass es oft als nicht existent angesehen wird.“
Folglich leben wir also nicht einem unendlichen Kosmos, nicht auf „der letzten Kugel“, wir könne von diesem „Kreisel“ eben nicht fallen, wir haben doch (Gott, Wissenschaft, Technik, Innovation). Wir sind nicht in ein „Nichts“ hineingeboren, wir sind „kein Zufall“… Deshalb hüten wir unseren Kinderglauben an die Unverletzlichkeit und spielen mit dem Kreisel wie wir mit allem ja „nur Spielen“ ( der Wissenschaftler nennt es Forschen) um anschließend unschuldig sagen zu können: Sorry, das habe ich so nicht gemeint, gewusst, gewollt.
(Jeder Raser sagt nach einem Unfall: ich wusste, dass es gefährlich ist, aber gerade deshalb habe ich es wegen des „Kitzel“ gemacht und weil ich an meine Unverletzlichkeit geglaubt habe)
Und a-propo Christus und die heilige Schrift: Sie waren es doch, die sich unsere kindliche Sorglosigkeit zunutze gemacht hat, sie hatten uns ja als „Kinder Gottes“ beschrieben: Und wenn man Kindern sagt: macht Euch die Erde untertan, Ich bin bei Euch..und wenn was passiert, werdet ihr wie ich beim Vater! sein. Das war doch gesäuselte Verführung zur Vollkasskomentalität. Wer wollte da noch sorgenvoll sein? Doch nur „unbekehrbare Sünder“. Wer oder was holt uns nun aus diesem Rausch heraus?
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Wenn man vom Spiel der Kinter ausgeht und statt Kreisel Karussell sagt, kommt es einem gar nicht mehr so kümmerlich vor… 😉
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„Die Menschheit verhält sich nicht wie eine Gruppe, die sich auf einem Kinderkreisel sitzen weiß.“
Irgendwann trudelt und kippt der Kreisel und dann sagt man : Oh, das habe ich nicht gewusst, das war nicht abgemacht.
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Das gilt vor allem im übertragenen Sinn. Realiter sind die Menschen lange weg, wenn der Kreisel ins Trudeln kommt.
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Sie ziehen es vor, selbst zu gehen.
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In der Tat, wir sind seit vielen Jahren aktiv dabei. Wegen der begrenzten Lebenszeit der Individuen ist das Prinzip „nach mir die Sintflut“ doch sehr verbreitet.
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„… wie mancher Verdacht muß da nicht auf das fallen, dessen ich mich sicher wähnte!“ – beeindruckender Satz, der nicht nur ein Stück Demut vor allzu großer (Selbst)Gewißheit nahelegt, sondern auch Spielraum für Hoffnung lässt angesichts der Befürchtungen über die klimatischen Entwicklungen: vielleicht kommt trotz aller wissenschaftlichen Gewissheit über künftige Erderwärmung doch alles ganz anders…
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Die Gefahr besteht allerdings, in Lethargie zu verfallen mit der Ausrede, es könnte ganz anders kommen. Und das ist etwas, was angesichts der Notwenigkeit zu handeln gar nicht zu gebrauchen ist….
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Interessant wäre es, diesen Kreisel in Aktion zu sehen, dann verschwimmen sicher die Farben zu Streifen…
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Ich habe den Kreisel sogar in Aktion fotografiert, ansonsten würde er schräg liegen, allerdings war die Belichtungszeit so klein, dass von Verschwimmungen kaum etwas zu sehen ist. Du hast aber recht, dass man darauf achten sollte, um auch den Bewegungseffekt abzubilden…
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