Bey dem Blitz geschieht Alles in einem Augenblick; nur die nachherigen Beobachter, welche die Reise zu Fuß machen, bringen das Allmähliche und Diskursive erst hinein.*
Der erste deutsche Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) stichelt mit diesem Satz auf eine für seinen Humor typische Weise gegen die eigene Zunft. Seine Aussage gilt insbesondere für die moderne Physik, in der mit großem Aufwand über extrem kurze Vorgänge monatelange und ggf. noch längere Untersuchungen durchgeführt und seitenlange Abhandlungen verfasst werden, die sich beispielsweise im Femtosekundenbereich abspielen.
1 Femtosekunde „dauert“ 0,000000000000001 Sekunden (1 fs =10-15 s).
Nebenbei: Ist der Text von Sprache und Geist her nicht sehr modern?
* Georg Christoph Lichtenberg. Physikalische und mathematische Schriften, 9. Band Teil II; S. 323
Ist es statthaft, so mein spontaner Gedanke, eine Femtosekunde in Relation zu einer Sekunde zu setzen? Eine Femtosekunde sollte doch qualitativ was anderes sein als die astronomisch anmutende vervielfachte Sekunde ?!
Während die Sekunde für die menschliche Wahrnehmung ein vertrautes und noch gut wahrnehmbares Zeitmaß an der unteren Grenze darstellt, ist sie für atomare Vorgänge ein langer Zeitraum, in dem einiges passieren kann. Vielleicht kann man sagen dass die Femtosekunde die Sekunder in der atomaren Welt darstellt.
Ja, so könnte man es sagen: Jede Welt hat ihre eigene Sekunde 🙂
🙂
„Die •neue Daseinsform« des theoretischen Menschen führt
sich in ihrem •grenzenlosen Apollinismus«, d. h. in •maßloser
Erkenntnißsucht« (Nietzsche) selbst ad absurdum, wenn sie in ihrem
Erkenntnisstreben das ganze Reich der Logik endlich durchmessen hat, ohne dabei je an ein Ziel gelangt zu sein, und die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen schließlich einsehen muß.“
Zittel, Claus: Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche Würzburg 1995
Klingt einleuchtend. Im Bereich der Physik ist der Femtosekundenbereich z.B. mit entsprechenden Lasern durchaus zugänglich und zeitigt reale Effekte…
Was Lichtenberg wohl zur Femtosekunde gesagt hätte? Er verwendet ja den „Augenblick“ als Zeitmaß für Kürze, ein sehr individuelles Maß, wie Elle oder Fuß.
Ich finde es aus unserer Sicht sehr anrührend, dass ein Naturwissenschaftler vor 250 Jahren eine so unermessliche Dauer (wenn man sie in Femtosekunden bezeichnen wollte) als Maß des kürzest denkbaren Moments verwendet.
Auch wenn die „Dauer“ des Bruchteils einer Sekunde für damalige Zeiten nicht vorstellbar war (Ist sie es heute wirklich, wenn man von den technischen Hilfen absieht?) kann ich mir aufgrund zahlreicher Äußerungen von Lichtenberg gut vorstellen, dass er die Möglichkeit nicht von vornherein abgelehnt hätte. Er war mit seinen Gedanken der Zeit weit voraus und hat viele Dinge erwogen, die damals undenkbar gewesen wären, in unserer Zeit aber empirische Realität sind. Ich habe dazu vor längerer Zeit ein paar Gedanken aufgeschrieben. Wenn du Zeit und Lust hast, könntest du dir das PDF (https://hjschlichting.wordpress.com/1999/05/05/man-mus-mit-ideen-experimentieren-gedanken-zum-zweihundertsten-todesjahr-von-georg-christoph-lichtenberg/) anschauen.
Danke, Joachim. Lust habe ich jetzt schon und Zeit etwas später.
Schön gesagt. Lichtenberg ist heute weniger als Physiker und mehr als kritischer und wortgewaltiger Aphoristiker bekannt…
So auch mir bisher, und sehr geschätzt.
🙂
Habe nochmals Dein obiges Zitat gelesen und Dein erwähntes PDF zum zweihundertsten Todesjahr…
…die nachherigen Beobachter, welche die Reise zu Fuß machen, bringen das Allmähliche und Diskursive erst hinein..
Da klingt ja auch etwas von Forscherkritik/ Kritik der Forschung und es aufkommenden Zeitgeistes seiner Zeit durch – gegen eines als für den zu Fuß reisenden zu forsches..Alles geht schnell und schneller…Der Mensch kommt kaum mit…Er formulierte ja auch „verdeckt“ „versteckt“ halb lustig, halb ernst…
Sogar J.W. Goethe schrieb ja über ihn: „Wenn Lichtenberg scherzt, dann ist ein ernsthaftes Problem versteckt.“
Womit wir wieder beim Lob der Langsamkeit wären, die L. bereits zu seiner Zeit vermisste…
Er stand mit dem Alten in brieflichen Kontakt, aber geliebt haben sich die beiden dennoch nicht, aber respektiert…
Diese Briefkontakte…man kann sich diese kaum mehr vorstellen. Auch die Künstlerpostkarten und Notizen. Es gab ja Künstler, die mehrmals am Tag Notizen ein und derselben Person zukommen liesen.
Darüber staune ich auch immer wieder. Lichtenberg und andere haben nicht nur viele und lange Briefe geschrieben, sondern damit auch Literatur geschaffen, die man auch dann mit Gewinn liest, wenn man den Kontext gar nicht mehr so recht nachvollziehen kann.
Der „Diskurs“ ist ja seit ein paar Jahren so ein Modewort. Erstaunlich, dass Lichtenberg sich bereits dessen bediente. Aber vielleicht kehrt es einfach alle paar Generationen zurück? Das inflationäre „Narrativ“ vielleicht auch?
Bei Lichtenberg hat man in der Tat manchmal den Eindruck, er sei seiner Zeit gedanklich, sprachlich und auch von der Art seines Humors 200 Jahre voraus. Merkwürdigerweise habe ich die von ihm benutzten modern anmutenden Vokabeln bei seinen Zeitgenossen kaum gefunden. Man kann sich kaum vorstellen, dass Goethe diesen Ausspruch gemacht hätte. 😉
Dann hatte Lichtenberg wohl tatsächlich feine Antennen Richtung Zukunft…
Ja, davon bin ich sehr überzeugt, insbesondere auch im Bereich der Physik, die er ja hauptberuflich betrieb. Ich habe vor vielen Jahren einige Argumente dafür aus Anlass seines 200. Todesjahres zusammengetragen (https://hjschlichting.wordpress.com/1999/05/05/man-mus-mit-ideen-experimentieren-gedanken-zum-zweihundertsten-todesjahr-von-georg-christoph-lichtenberg/) als PDF
Lese ich gerne, danke für den Link!