
Die Welt-Ausrechnung, Allmacht der Neuzeit, vor der auch Diktatoren sich beugen und Alle, die sich sonst hassen, verbrüdern, will alle Dinge entsiegeln. Im Freiraum der Kunst, wenngleich er folgenlos wurde: sie versiegeln sich wieder. Je mehr wissenschaftlicher Aufschluß, desto verschlossener erweisen die Dinge sich. Sie trotzen. Sie sehen den einzigen Fluchtweg, wenn sie überhaupt einen sehen: Umziehen ins Rätsel. Das Labyrinth, ihre Wohnung. So geht durch die Künste unserer Tage ein Zug, wir kennen ihn Alle. Jeder Vers sagt es, jedes Bild spricht davon: Die Dinge verrätseln sich. Das Unaufgeklärte, das Schwerverständliche ist ihre Zuflucht.
In der Neuzeit, in der totalen Welt-Ausrechnung, so will ihnen vorkommen: Es ist nur noch das Rätsel, das Rat gibt.*
* Erhart Kästner. Aufstand der Dinge. Frankfurt 1975, S. 191
Ist womöglich auch der zunehmende „Obskurantismus“ eine Reaktion auf die Allmacht der „Weltausrechnung“? Sie führt ja zur Verflachung, und auch die traditionelle „Vertiefung“ durch Religion ist längst diesen Rechenkünsten zum Opfer gefallen – wohin soll sich der Mensch mit seiner Seele retten? Der eine hat die Kunst, der andere das Horoskop, der Dritte den Mythos, der Vierte eine Abart der Mystik etc pp.
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Ich neige dazu, deine Frage mit Ja zu beantworten. Daher auch das Kästner-Zitat. Die Rationalisierung aller Lebensbereiche macht viele Menschen hilflos, weil sie trotz der „unwiderlegbaren“ Argumente das Gefühl haben, dass etwas Entscheidendes fehlt. Mir ist diese Problematik erst so richtig augegangen, als ich 1978 das Buch: „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ von Joseph Weizenbaum las. Weizenbaum war damals einer der Gurus der aufkommeden Computerwissenschaften. Einer seiner Kernsätze lautet: „Ich bekämpfe den #Imperialismus der instrumentellen Vernunft, nicht die Vernunft an sich.“
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Aber Herr Kästner! Haben sie noch nie etwas von 5–10000 Jahre alten unlösbaren Mythen gehört? Vom rätselhaften Streit der Alten Aufklärungs-Philosophen über die „Feststellung der Welt“! Über die sinnlose Jagd nach der „Wahrheit“! Etwas über die rätselhafte Entwicklung der Vernunft zur UN-Vernunft? Verzweifeln sie nicht über den Krieg der modernen Aufklärung und ihre Kolateralschäden unter der Tarnadresse „Vernunft“.
„Unsere“ Welt war, ist und (vielleicht) bleibt sie auch „ein Rätsel“ der ewigen Wiederkehr des ähnlichen! Vielleicht ist das der sinnlose Sinn: Das „Leben“ ein Zeitvertreib für Rätsellöser von unlösbaren Rätsel? Wann begreifen wir, das wir sie vielleicht besser „ruhen“ lasen sollten -die Rätsel-? Können wir das, als „geborene Rätsellöser“?
Mit den Worten von Rilke über die Geduld:
Er kommt doch! (..der nächste Sommer)
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
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Ich denke, dass Herr Kästner genau deshalb, weil er um die Bedeutung der Mythen, Poesie etc. weiß, sich gegen die Weltausrechnung als Heilslehre wendet und beispielsweise ein Gedicht, das den Dingen wenigstens teilweise zurückgibt, was ihnen durch die Reduktion auf Zahlen genommen wird, sehr begrüßen würde.
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Jezt habe ich nochmal zu Kästner recherchiert:
Hier verliebt sich ja jemand in ein Land und in dessen Geschichte. Leider auch in einer unguten Zeit des 2.ten Weltkriegs.
Er taucht ein und taucht in ein ursprünglich vertrautes, vorübergehend verlorenes und lange sehnsüchtig gesuchtes und wiedergefundenes, ohne zu wissen, dass es „dieses hier“ ist. Aber neben Land und Menschen in ihrer unbeachteten Armut und Anmut taucht er insbesondere in das um himmelte Stimmungsbild von Antike und Christentum. Und wie es so geht, wenn uns die ursprüngliche Melodie unseres Lebens anspringt und umklingt, die Stimmung eines Ortes in seinen Bann zieht, eine Landschaft „gefangen nimmt‘. Dann geraten wir in den Sog der „fötalen Ursprungs-Heimat“. Dann kann es zu einer fundamentalen Werteverschiebung kommen: weg von „sinnlich-sorgenden-irdischen-Dingen“ hin zu einem schwebend-losgelöst-löslichem-Lebensgefühl, das sich nur aus dem nun wiedererwachten, fötalen Luxus speisen kann. Alles in den mich nun umspülenden Landschaften speist uralte Erinnerungen an den ersten sorgenfrei-umsorgten Raum zu zweit.
Hier ein paar exquisite Schreibproben Kästners:
„Auf die Faust meiner eigenen kleinen Ausgräberei suchte ich im Verbliebnen
Verlornes: Unverlorenes auch. Nicht Sachen. Sondern den Hauch und den Duft, den atmenden Überglanz, unnennbare Farbendüfte, aus Himmelsilber gemischt – was zärtlicher ist als Schillerstaub von Schmetterlingsflügeln und sich dennoch besser und fester, gewisser, ewiger zeigt als Marmor und Erz.
Es ist immer das Gleiche, was wir suchen, wenn wir nach Griechischem trachten: immer uns selbst…..
Nie werd ich aus den Sinnen verlieren, was ich einsog und sah. […] Ich war dort, mich zu erziehn.
Und wenn ich finde, was alt ist, weil das Land und die Erde aus immer dem Selben das Selbe von neuem gebiert: ein gastfreundliches Haus, einen Namenstausch, ein ernstes Versprechen, den Gastbesuch zu erwidern, einen gefüllten Weinschlauch am Eselsattel oder ein Hirtenlied – so ist mir das unvergleichlich viel lieber als alles“
Dann können die Dinge nur den Aufstand üben. Sie werden einfach unbedeutend, störend.
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Ich habe drei oder vier Bücher von Kästner gelesen. Was mich an ihm fasziniert ist die Sprache, mit der er es ihm gelingt, eine Ahnung von dem zu vermitteln, was direkt nicht zur Sprache gebracht werden kann.
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Die Zitate stammen aus:
Klicke, um auf 2004-1_Hiller_Kaestnervortrag.pdf zuzugreifen
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Dank dir für die Quellenangabe. Im Unterschied zu meinem eigenen Eindruck bei der Lektüre fand ich das Christliche nicht so dominieren, wie es in diesem Aufsatz erscheint.
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Kästner muss auch wohl freundschaftlich mit Heidegger zu tun gehabt haben. So kam mir bei den wenigen Zitaten vieles sehr nahe an dessen Schreibweise vor. Wer mag da wohl wen „angesteckt“ haben? Heidegger kam ja auch aus einer Berg- und Bauerngegend. Beide waren sie irgendwie in die „unsägliche“ Zeit „verstrickt“.
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Die Verstrickungen von Heidegger war mir bekannt. Von Kästner habe ich es erst erfahren, nachdem ich das Buch „Zeltbuch von Tumilat.“ gelesen hatte und Genaueres über den Verfasser wissen wollte. Er war wohl insbesondere deshalb verstrickt, weil er zur Besatzungstruppe in Griechenland gehörte.
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Je mehr wissenschaftlicher Aufschluß, desto verschlossener erweisen die Dinge sich.
Daran blieb ich hängen. Das scheint mir ein Gemeinplatz zu sein.
Nicht der Aufschluß erzeugt die zunehmende Verschlossenheit, sonderen der forschende Weg, auf dem man erkennt, wie ungemein komplex alles ist. Auf diesem Wege gelingen natürlich Teilaufschlüsse. An der allgemeinen Komplexität ändert diese aber nichts.
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Dass wir von Dingen gefühlsmäßig angesprochen sein können, sie schön finden… wird in der Beschränkung auf rein physikalisch-mathematischen Aspekte in unserer Zeit immer mehr übersehen. Genau das treibt m.E. Kästner um.
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…man sieht nur mit dem Herzen gut 😊
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Diese Aussage des kleinen Prinzen wird leider immer mehr ignoriert…
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Ja… und wo führt das hin…..
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Lieber nicht ausmalen…
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