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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie, Physik im Alltag und Naturphänomene

Wo sieht man die Sonne?

Ein Sonnenaufgang ist schon lange nicht mehr das, was er sprachlich vorgibt zu sein. Da geht nichts auf, was vorher zu war. Da entsteht nichts, was später wieder verschwindet. Sowohl im geozentrischen als auch im heliozentrischen Weltbild entsteht dieser Eindruck dadurch, dass sich die Erde und die Sonne relativ zueinander bewegen. Wir gehen neuzeitlich-kopernikanisch davon aus, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, weil ansonsten beispielsweise die Sterne – je weiter desto schneller – kollektiv um die Erde rotieren müssten und das für entfernte Sterne auch noch mit Überlichtgeschwindigkeit. Trotzdem bleibt es beim Sonnenauf- und -untergang.
Was schon eher Kopfzerbrechen bereiten könnte, ist die Tatsache, dass wir die Sonne beim Auf- und Untergang nie da sehen, wo sie „in Wirklichkeit“ oder „geometrisch“ ist. Denn durch die Brechung des Lichts an der dichten Atmosphäre, durch die es in dieser Konstellation hindurch muss, wird das Sonnenbild optisch angehoben und zwar etwa um einen Winkel, der dem Sonnendurchmesser entspricht (etwa 0,5 Grad). Wenn die Sonne beim Untergang den Horizont berührt, ist sie also „in Wirklichkeit“ schon untergegangen.
Diesen Gedanken könnte man philosophisch oder wie auch immer weiter vertiefen in Richtung auf die Frage, ob man denn ganz genau genommen (mit vielen Stellen hinter dem Komma) überhaupt je etwas dort sieht, wo es ist. Denn Lichtbrechung – und sei sie sie noch so klein – ist immer vorhanden, wenn das Sonnenlicht durch ein Medium, also etwa durch die Luft geht. Überlegungen, die in diese Richtung laufen, kommen kaum zu einem befriedigenden Ergebnis. Man könnte auch noch hinzufügen, dass wegen der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit die Gegenstände stets an der Stelle gesehen werden, an der das Licht abgeschickt wurde, das uns im Augenblick der Wahrnehmung erreicht.
Also lassen wir es und erfreuen uns am Abbild der Sonne – in diesem Fall an dem Foto – die hier hinter dem Geäst von Bäumen untergeht. Das Sonnenlicht hat beim Durchgang durch die Atmosphäre und den zahlreichen Streuvorgängen mit der Luft und den darin enthaltenen Aerosolen so viel an Farben und Intensität eingebüßt, dass die Sonne einerseits nicht mehr in allen Farben – also weiß leuchtet – sondern hauptsächlich in gelben und roten Farbtönen (er)scheint, und dass man andererseits bedenkenlos in die Sonne hineinblicken und beobachten kann, wie schnell sie absinkt. Wenn sie den Horizont berührt dauert es gerade einmal 2 Minuten, bis der letzte Rest ihres Rands verschwindet. Und wenn man Glück hat, viel Glück, dann kann man auch noch erleben, dass sie sich mit einem grünen Blitz verabschiedet.
„Worum geht es? Durch den kopernikanischen Schock wird uns demonstriert, daß wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern daß wir ihre „Wirklichkeit“ gegen den Eindruck der Sinne denkend vorstellen müssen, um zu „begreifen“, was mit ihr der Fall ist. Da liegt das Dilemma: wenn die Sonne aufgeht, geht nicht die Sonne auf. Was die Augen sehen und was der astrophysisch informierte Verstand vorstellt, kann nicht mehr miteinander zur Deckung kommen. Die Erde wälzt sich im leeren Raum um sich selbst nach vorn, wobei der irreführende Eindruck entsteht, wir sähen die Sonne aufgehen. Solange das Universum besteht, gab es noch keinen Sonnenaufgang, sondern nur sture Erdumdrehungen, und dieser Befund wird nicht tröstlicher dadurch, daß wir aufgrund radioastronomischer und anderer Messungen zu der Vorstellung gezwungen sind, daß es vor einem Zeitpunkt t(x) weder die Sonne noch die Erde noch Augen gegeben hat, um deren Konstellationen zu sehen. Dann wären nicht nur die Sonnenaufgänge, sondern auch die Voraussetzungen des Scheins von Sonnenaufgängen in einem kosmischen Noch-Nicht verschwunden. Der augenscheinliche Sonnenaufgang verliert sich in einer mehrfachen Nichtigkeit, sobald wir den ptolemäischen „Schein“ zugunsten kopernikanisch organisierter Vorstellungen von „Wirklichkeit“ aufgeben. Radikaler als jedes metaphysische Vorstellen von „Wesenswelten“ dementiert das moderne physikalische Vorstellen der Körperwelt den ‚Schein der Sinne‘.“*

*Sloterdijk, Peter: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Frankfurt a M 1987.

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Diskussionen

16 Gedanken zu “Wo sieht man die Sonne?

  1. „ob man denn ganz genau genommen (mit vielen Stellen hinter dem Komma) überhaupt je etwas dort sieht, wo es ist.“
    Das hängt ja auch u.a. an der Leistung des Sehapparats, welche Bilder es schafft und wie schnell.
    Da wo es evolutionär nicht nötig ist, schafft so ein Apparat nichts.
    (Insekten etwa sind da offenbar viel schneller.)

    Hat nicht Galilei 1610 seinen Anklägern angeboten, durchs Fernrohr selber zu schauen, um sich ein Bild zu machen. Das lehnten die ab, weil es verzerre. Also musste er widerufen.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 6. April 2022, 12:31
    • Genau, letztlich bekommen wir von der „Welt“ nur das, was unsere Sinne aufnehmen können. Das kann schon bei einfachen Tieren ganz anders sein und erst bei solchen, die Elektrizität und/oder Magnetismus wahrnehmen können.
      Galilei hat in der Tat seine Widersacher angeboten, durchs Fernglas zu schauen. Die die durchblickten fühlten sich allerdings in ihrer Auffassung bestätigt (denn was hat ein heller Punkt in dem Rohr mit einem Stern zu tun). Er hätte didaktisch geschickter vorgehen sollen und ihnen erst einmal die Leistung des Fernrohrs mit bekannten Objekten demonstrieren müssen. Aber die Situation war vorher, nicht während des Inquisitionsverfahrens.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 6. April 2022, 13:53
  2. Sloterdijk ist ein Blödmann, Pardon. Nur weil es physikalisch gesehen keinen Sonnenaufgang gibt, gibt es keinen? Selbstverständlich gibt es den Sonnenauf- und Untergang und zwar in jedem Moment – außer wir Menschen bringen es fertig, uns diesen Anblick ganz und gar zu vermiesen und zu verbieten und an seine Stelle eine abstrakte physikalische Vorstellung zu setzen.
    Übrigens ist seine Ausdrucksweise wohl auch physikalisch inkorrekt. „Die Erde wälzt sich im leeren Raum um sich selbst nach vorn“ – Was kann im leeren Raum „nach vorn“ bedeuten?,

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    Verfasst von gkazakou | 6. April 2022, 12:46
    • Liebe Gerda, du hast völlig Recht. Ich habe in der Tat gezögert, das Zitat in dem Beitrag zu belassen, der zu meiner Serie „Physik und Literatur“ gehört, in der ich auf die Rezeption physikalischer Sachverhalte in der Literatur geht. Oder ich hätte den Dissens zu Sloterdijk expliziter machen sollen. Nun sorgt wenigstens dein Kommentar dafür.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 6. April 2022, 13:45
      • Ich verstehe die Einwände hier nicht.
        „Nach vorn“ sehr wohl, aus dem Fokus eines Beobachtenden. In den können wir uns zumindest hineindenken oder nicht?

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        Verfasst von kopfundgestalt | 6. April 2022, 19:16
      • Aus Sloterdijks Text geht die Verabsolutierung der physikalischen Sehweise als der eigentlichen hervor. Das ist sehr verkürzend gesehen. Es gibt auch die poetische, die lebensweltliche Sehweise, die ebenfalls ihre Berechtigung haben. Und wer weiß, ob spätere Generationen das auch noch so sehen. Die griechische Weltordnung sah anders aus. Ich kann immer nur wieder auf das Buch von T.S. Kuhn verweisen: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 6. April 2022, 20:42
      • Ja, Du hast es mal unter dem Schlagwort „Paradigmenwechsel“ angeführt gehabt. Wir diskutierten auch mal drüber, denke ich.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 6. April 2022, 21:26
      • Man kommt immer wieder zu den wesentlichen Dingen zurück…

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 6. April 2022, 22:12
      • Gottseidank!
        Es gibt also Fixsterne 😉

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        Verfasst von kopfundgestalt | 6. April 2022, 22:25
      • Gemessen am Menschenleben erscheinen sie fix(iert), gemessen am Alter des Kosmos sind sie ganz schön fix unterwegs. 😉

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 7. April 2022, 08:45
      • Da bin ich ja froh, dass du es mir nicht verübelst. Das Zitat finde ich sehr interessant, gerade weil es eine Tendenz deutlich macht, abstrakte physikalische Gesetze an die Stelle des wirklichen Erlebens zu setzen. Dieser Gedanke hat mich heute auch bei meiner „Belehrung“ Doras über das Weiß geleitet, aber ich habe ihn nicht zum Ausdruck gebracht (oder höchstens durch den Ausdruck „Angelesenes“ angedeutet). Das Erleben des Weißen ist ja etwas vollkommen anderes als die physikalische Erklärung. Und für Kinder ist es Gift, wenn sie zu früh in die Abstraktion geführt werden. Dann schiebt sich die Erklärung vor das Erleben. Sie gelten dann zwar als erstaunlich klug, sind aber tatsächlich dumm geblieben, denn sie haben gar nichts erfahren..

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        Verfasst von gkazakou | 6. April 2022, 19:30
      • Die physikalische Sehweise ist eben nur eine von vielen. Man sollte keine als absolut setzen. Dann gibt es Probleme. Der/die Mond/Luna ist eben nicht nur ein Steinklumpen, sondern auch Freund/Freundin der Dichter und Liebenden…

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 6. April 2022, 20:31
      • Es ist wie mit der Musik.
        Techno und Klassik wird beides als Musik bezeichnet, erfüllt aber meist sehr verschiedene Bedürfnisse. Und beides darf sein.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 7. April 2022, 09:37
      • Es sollte jedenfalls nicht so sein, dass der eine vom anderen sagt, das sei keine Musik.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 7. April 2022, 10:24
  3. Mir gefallen deine philosophischen Betrachtungen. Die Frage, ob man je etwas dort sieht, wo es ist. Die Frage, ob wir die Welt so sehen, wie sie ist, oder ob wir „ihre Wirklichkeit uns … vorstellen“ in dem Bemühen unseres Verstandes, zu begreifen … .

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    Verfasst von lachmitmaren | 6. April 2022, 14:13

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