Einfache Dinge
Einerlei geh ich
Zweierlei seh ich
Dreierlei leb ich
Viererlei freut mich am Tage
Einerlei sag ich nicht
Zweierlei trag ich nicht
Dreierlei hab ich nicht
Viererlei schreckt mich zu Tode*
Die Blätter der Kletterhortensie wachsen nach einem mathematisch anmutenden Prinzip: jeweils zwei sich gegenüberliegende Blätter wachsen im rechten Winkel zum Vorgängerpaar heran, sodass die dritte Blattgeneration wieder parallel zur ersten ausgerichtet ist und so immer weiter…
Aber ebensowenig wie die Blätter damit das Abzählen erleichtern wollen, geht es in dem Gedicht von Elisbeth Borchers um einen Abzählreim. Dazu einen Kommentar von Michael Braun:
„Manchmal tarnt sich ein Gedicht als Kindervers, indem es in der Manier eines Abzählreims daherkommt. Auch was sich im Text der 1926 geborenen Elisabeth Borchers als bloße Repetition und Variation ausgibt, entpuppt sich als ein vertrackter Vers über die Ambivalenzen und Widersprüche der menschlichen Existenz. In den fünfzig Jahren literarischer Produktion hat die Dichterin ihre diskrete Schreibweise immer mehr verfeinert, ihre lyrische Diktion wurde im Verlauf dieser Jahre immer asketischer.
Zwischen „einerlei“ und „zweierlei“ liegt in diesem um 1980 entstandenen Gedicht nicht nur eine klangliche und numerische Differenz, sondern ein Abgrund an meist negativen Bedeutungen. „Einerlei “ meint ja etwas Monotones, „Zweierlei“ oder „Dreierlei“ dagegen ein sich vergrößerndes Feld an Widersprüchen. So sind schon die positiven Setzungen der ersten Strophe doppelbödig; in den Negationen der zweiten Strophe verschärfen sich die Widersprüche und Paradoxien, so dass am Ende die Vielfalt der Bedrohungen das lyrische Ich „zu Tode erschrecken“.**
* Elisabeth Borchers (1926 – 2013). Alles redet, schweigt und ruft. Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001
** Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007 (aus: PlanetLyrik)
Mich spricht
„die Ambivalenzen und Widersprüche der menschlichen Existenz“ sehr an.
Fast möchte ich das eine noble Geste bezeichnen, dieses Unauslotbare und Komplexe (blödes Wort eigentlich) abbilden zu wollen.
Mir kommt ein Gedanke. Wäre alles schlicht abbildbar, dann wären wir eigentlich nicht lebendig. Dann wären wir wie Maschinen.
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So ist es. Wir wären ein Mechanismus, durch den bereits alles, auch das was noch kommt, festgelegt wäre, was immer wir auch tun…
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Das Gedicht spricht mich sehr an. Zwei Reihen der Steigerung: JA gegen NEIN. Öffnung – Vermehrung – Freude gegen Zerrissenheit – Mangel – Zerfall und Tod.
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Danke, für deine Kurzinterpretation, die mir sehr zusagt.
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Die Pflanze zeigt sich eindeutig, auch wenn sie vierdeutig zu sein scheint. Das Komplexe ist größer als die Einzelheiten und deutet auf eine Zielstrebigkeit und einen Sinn. Die Sinnfindung ist eine schöne Herausforderung für uns Menschen, immer wieder neu.
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Sehr schön gesagt!
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Anders ist es mit dem Gedicht, das zeigt, wie widersprüchlich wir Menschen doch oft sind. – Der Interpretation durch einen Herausgeber hätte es nicht bedurft. Viel schöner und freilassender ist es für eine/n Leser/in, es aus dem Gedicht selbst herauszuspüren.
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🙂
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