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Physik im Alltag und Naturphänomene

Katastrophales Rauschen im Walde

Nach einem heftigen Regenschauer nutze ich die erste Gelegenheit, in der der Wasserstrom von oben als feines Nieseln seinem Ende entgegen zu gehen scheint, um eine kleine Wanderung zu unternehmen. Als ich den Wald betrete, fühle ich mich unter dem Blätterdach zunächst ziemlich geschützt, weil die Bäume den Nieselregen weitgehend auffangen. Doch plötzlich setzt ein anschwellendes Rauschen ein, das sich zunächst nur akustisch äußert und an eine Windböe erinnert, dann aber zu einem gefühlt wahren Sturzbach eskaliert. Es hört allerdings genauso plötzlich wieder auf und lässt mich wie einen begossenen Pudel zurück.

Während ich noch – zugegeben etwas länger – über die Ursache nachdenke, rollt die nächste Lawine heran. Lawine ist der passende Ausdruck für ein Ereignis, das ich bislang nur als Mechanismus bestimmter Wasserspiele kenne. Ein Beispiel erlebte ich vor vielen Jahren im Berliner Europacenter. Das Foto zeigt einen Ausschnitt daraus. Im Prinzip funktioniert das Wasserspiel so, dass Wasser von oben in mehr oder weniger aufrechte Behälter fließt, die an der Spitze eines flexiblen Stabs sitzen. Wird ein bestimmtes kritisches Wasservolumen erreicht, neigt sich der entsprechende Behälter schlagartig und entleert sich bis zum letzten Tropfen. Das Wasser wird von einem tiefer liegenden Behälter aufgenommen, der dann wegen der großen Wassermenge sofort einknickt und das Wasser an die nächsten Behälter weitergibt. Nach der Entleerung richten sich die Gefäße wieder auf und das Spiel beginnt von vorne.

Etwas Ähnliches passiert mit den Blättern der Bäume. Bei leicht konkav geformten weitgehend waagerecht ausgerichteten Blättern, haben wir eine direkte Entsprechung zum Wasserspiel: Das von oben herabrieselnde Wasser sammelt sich in der flachen Hohlform. In vielen Fällen genügt es, dass Blätter benetzbar sind. Dann haften zunächst kleine Tröpfchen an ihnen, die bei weiterer Benetzung zu immer größer werdenden Tropfen verschmelzen. Deshalb ist man unter dem Blätterdach zunächst weitgehend vor dem Nieselregen geschützt. Mit zunehmender „Füllung“ der Blätter bzw. wachsender Tropfen können die Stängel die wachsende Wassermasse auf den Blättern nicht mehr halten und knicken plötzlich ein. Infolgedessen ergießt sich das Wasser auf die darunter liegenden Blätter, die vielleicht auch schon eine beträchtliche Wasserlast tragen, sodass dadurch auch deren kritische Haltekraft überschritten wird, sie ebenfalls einknicken und die nächst niedrigere Etage überfluten. Damit wird dann eine Kettenreaktion ausgelöst, deren Opfer ich bei meinem Spaziergang unter dem vermeintlich wasserdichten Blätterdach soeben geworden bin. Die größte Wirkung entsteht natürlich, wenn ein möglichst hoch liegendes Blatt mit der Entleerung beginnt und die Lawine ins Rollen bringt.
Nachdem die Blätter ihre Wasserlast los sind, gehen sie in die Ausgangsstellung zurück, sammeln wieder Tröpfchen für Tröpfchen ein, bis es zum nächsten Ausbruch kommt. Aber dann werde ich nicht mehr staunend das Schauer über mich ergehen lassen, sondern – inzwischen schlau geworden – schon beim ersten zaghaften Rascheln in den oberen Etagen das Weite suchen. Das funktioniert, weil die akustische Warnung des anschwellenden Rauschens oft noch Zeit lässt, unter benachbarte Bäume oder in Lichtungen zu flüchten, die von der Lawine nicht betroffen sind.

Manchmal gibt es allerdings auch Fehlalarm. Dann hört es sich so an, als würde eine Kaskade starten, aber es wird nur eine Minilawine ausgelöst, weil die darunterliegenden Blätter noch so weit vom kritischen Punkt entfernt sind, dass sie die von oben kommende Last aufnehmen können. Diese kleinen, viel häufiger als die nassmachenden großen Lawinen vorkommenden Ereignisse tragen aber bereits zum nächsten Supergau bei, indem sie die unteren Blätter schneller aufladen als es der bereits von den oberen Blättern abgefangene Nieselregen tun könnte.

Ich habe hier nicht nur einem schönen – wenn auch etwas feuchtem – Naturphänomen der etwas unbekannteren Art beigewohnt, sondern auch gewissermaßen ein grobes Modell für andere Arten von Lawinen und Erdbeben am eigenen Körper erfahren. Auch bei echten Lawinen, Erdbeben und anderen Katastrophen treten die größeren Ereignisse viel seltener als die mittleren und erst recht als die kleineren auf (Potenzgesetz) aber die kleinen und mittleren spannen allmählich das große Ereignis vor, bis dann der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt.

Diskussionen

14 Gedanken zu “Katastrophales Rauschen im Walde

  1. Zum letzten Satz:
    So erklärt sich auch wohl ein Video eines massiven Gletschereinbruchs, das ich mal sah. Eine irrsinnig grosse Fläche sackte da ein. Die Dimension will ich mir garnicht mehr vergegenwärtigen…Schauder!

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von kopfundgestalt | 23. Juli 2022, 00:27
  2. Das Erlebnis selbst war ja nicht so schön. Doch der Bericht zeigt ein klares Erkennen von einer Naturgesetzmäßigkeit, die sich auf vieles, fast alles übertragen läßt. Sehr wichtig zu wissen und zu meiden.

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    Verfasst von Gisela Benseler | 23. Juli 2022, 08:18
  3. Du bewegst dich in einer langen Traditionslinie von Forschern, die ihre Behaglichkeit (bis hin zu Gesundheit) der Forschung opfern 😉. Erfahrungen mit sommerlichem Regen gehören dabei eher zur angenehmen Sorte.

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    Verfasst von Ule Rolff | 23. Juli 2022, 11:05
    • Danke Ule! In diesem Fall war es nicht nur angenehm, sondern diente der Befriedigung eine Gier, die allerdings weitgehend akzeptiert wird, – der Neugier. 😉

      Gefällt 2 Personen

      Verfasst von Joachim Schlichting | 23. Juli 2022, 13:03
      • Aber nur weitestgehend.
        Seit 6 Tagen werte ich meine Fotos von Kreta aus, meine Frau ist schon ganz brummig. 🤪

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        Verfasst von kopfundgestalt | 23. Juli 2022, 22:33
      • Das mit der Auswertung der Fotos kenne ich. Es kann einem leicht über den Kopf wachsen. Ich habe immer Schwierigkeiten, mit von Bildern zu trennen, die in leicht unterschiedlicher, aber eben nicht identischer Version da sind.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 24. Juli 2022, 10:57
      • Irgendwelche Details tauchen auf, die fast identische Fotos doch wieder interessant machen.
        Z.b. bei der Bembix-Kreiselwespe, die ja so einen weißen Ton hat. Bei bestimmter Stellung erscheint er partiell gelblich. Auch bei winzigen Wespen, die eine weiße Strich-Zeichnung haben und die ich noch nicht ermittelt habe, sind die weißen Striche auf dem Mittelteil plötzlich gelblich.
        Das Taubenschwänzchen habe ich ja oft fotografiert, aber das mit einem Fusel auf der Antenne/oder Auge ist dann schon wieder ein Glanzstück.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 24. Juli 2022, 12:16
      • Genau das ist es. Auch wenn man es im Moment nicht „verwerten“ kann, könnte ja in Zukunft mal eine Situation kommen, in der es wichtig ist… 😉

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 24. Juli 2022, 14:12

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